Ein Hoffnungsstern am Himmel Roman
dich.«
Wie schon zuvor klopfte es an der Tür, und jemand rief ihren Namen, doch Estella beachtete es gar nicht. Sie wollte niemanden sehen, wollte allein sein mit ihrer Scham und Verzweiflung. Sie hatte allen gesagt, dass es ihr Leid tat; mehr konnte sie nicht tun. Wenn die anderen wirklich wollten, dass sie abreiste – und davon war sie überzeugt –, musste sie irgendwie das Geld für die Rückreise nach England zusammenbekommen.
Estella blickte auf das Datum der ersten Eintragung im Tagebuch ihres Vaters. Er hatte es kurz vor ihrem ersten Geburtstag begonnen. Mit traurigem Lächeln stellte sie fest, dassseine Schrift der ihren sehr ähnelte. Er hatte nicht jeden Tag in das Buch geschrieben; die Einträge lagen manchmal Wochen, ja Monate auseinander. Während sie seine Gedanken las, wurde ihr klar, dass er den Busch geliebt hatte – und dass er sehr einsam gewesen war, trotz der Gesellschaft von Charlie und den Menschen aus Kangaroo Crossing.
Charlie hatte ihr erzählt, dass die Monate nach Carolines Abreise die schlimmsten in Ross’ Leben gewesen waren. Er hatte weder geschlafen noch gegessen und war wie betäubt gewesen. Charlie hatte sich große Sorgen um ihn gemacht. Doch allmählich hatte Ross wieder ein halbwegs normales Leben aufgenommen, und alle in der Stadt hatten ihm dabei geholfen. Es wunderte Estella deshalb nicht, dass er erst ein knappes Jahr später angefangen hatte, Tagebuch zu schreiben.
Seine erste Eintragung galt einem Arzt, der zu dieser Zeit im Krankenhaus angestellt gewesen war:
10. November 1926: Dr. Sam Carter ist sehr tüchtig, aber ich habe bei ihm noch kein Zeichen von Verständnis für die Aborigines entdeckt. Ich bezweifle, dass Carter lange in Kangaroo Crossing bleiben wird. Heute Morgen hörte ich ihn eine lubra beschimpfen, weil sie unreife Beeren gegessen hatte. Er scheint nicht zu begreifen, wie schwierig es ist, während der Dürre im Busch zu überleben.
15. November 1926: Heute hat mein kleines Mädchen Geburtstag. Ich muss immerzu an sie denken. Es bricht mir das Herz, dass schon ein Jahr ihres Lebens vergangen ist, ohne dass ich sie gesehen habe.
Estella fragte sich, ob ihre Mutter wohl darüber nachgedacht hatte, wie sehr Ross sich sehnte, sie zu sehen. Sie selbst hatte nie einen Gedanken daran verschwendet, doch Carolinemusste geahnt haben, was Ross empfand. Sie konnte nicht so herzlos gewesen sein, dass es sie nicht interessierte.
Dezember 1926: Wie erwartet ist Dr. Carter abgereist. Sein Nachfolger heißt Dr. Singh. Er ist seit einer Woche hier, spricht aber nicht sehr gut Englisch, sodass er Schwierigkeiten hat, sich mit seinen einheimischen und europäischen Patienten zu verständigen. Nachdem er eins von Charlies halb rohen Steaks in der Bar probiert hat, kocht er jetzt selbst indisches Essen in seinem Zimmer. Im ganzen Krankenhaus riecht es nach Curry. Ich bin sicher, Dr. Singh betrachtet seinen Aufenthalt in Kangaroo Crossing als vorübergehend, und die Menschen hier denken genauso. In der letzten Woche sind zwei neue Häuser fertig geworden, und es herrscht freudige Erwartung wegen der Bahnlinie, an die die Stadt angeschlossen werden soll. Kev und Betty Wilson sind in Kangaroo Crossing angekommen und in eines der neuen Häuser eingezogen; der Postbote und seine Frau werden das andere Haus übernehmen. Kev und Betty sind buscherfahren. Sie haben ihre station in den Kimberley-Bergen nach einer dreijährigen Dürre verloren und wollen ihren Lebensabend an einem kleinen, abgelegenen Ort verbringen. Ich bin sicher, Kangaroo Crossing entspricht genau ihren Vorstellungen. Sie scheinen zu bezweifeln, dass die Eisenbahnlinie wirklich bis hierher gebaut wird, doch sie besitzen beide viel Gemeinsinn und haben dem Krankenhaus ihre Hilfe angeboten.
Januar 1927: Das Weihnachtsfest kam und ging vorüber. Ich hatte gehofft, Caroline würde mir eine Fotografie von Estella schicken, aber bisher ist nichts gekommen.
Die Farmer draußen auf den stations erweisen sich trotz der jetzt schon ein Jahr andauernden Dürre als zäh und unnachgiebig. Ich bewundere ihren Mut. Gerade habe ich drei Tage in Pandi-Pandi verbracht und bin mit herzerwärmender Gastfreundschaft aufgenommen worden. Die Rinder, die nochleben, sind unterernährt, und viele Schafe sind von Fliegen befallen und sterben. Trotzdem kämpfen die Farmer weiter. Wir alle glauben fest daran, dass der Regen kommt – hoffentlich nicht zu spät für die Tiere.
10. April 1927: Hurra, der Regen ist da!
12.
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