Ein Hoffnungsstern am Himmel Roman
gegenüber unfair gehandelt – und zu Estellas Pech besaßen die meisten ein gutes Gedächtnis.
»Aber die Leute wissen doch, dass Ross eine Tochter hatte, nicht wahr?«
Charlie wusste nicht, was er sagen sollte.
»Charlie!«
»Nein, sie wissen es nicht, Estella. Ross hat es keinem außer mir erzählt. Als er erfuhr, dass deine Mutter sich scheiden lassen wollte, um einen anderen zu heiraten, war er beinahe ein gebrochener Mann. Und als sie ihm erklärte, dass du als Kind ihres neuen Ehemannes erzogen werden solltest, war ich sicher, dass es ihn umbringt. Wie konnte er sich darüber freuen, eine Tochter zu haben, wenn er wusste, dass du nie wirklich sein Kind sein würdest?«
Estella erschrak.
»Wir werden es allen sagen, Estella, aber ich dachte, wenn die Leute dich zuerst als Menschen kennen lernen, bevor sie erfahren, wer du bist, akzeptieren sie dich um deiner selbst willen.«
»Nun, der Anfang scheint schon einmal ein ziemlicher Misserfolg gewesen zu sein, nicht wahr?«
»Wenn du es dir leichter machen willst, Estella, dann musst du versuchen, die Dinge so zu nehmen, wie sie sind.«
Estella war nicht sicher, dass sie das konnte, doch sie wusste, dass sie es zumindest versuchen musste.
»Es hätte mir geholfen, hätte ich gleich gewusst, dass meine Anstellung befristet ist. Außerdem hat keiner mir gesagt, wie klein die Stadt ist. Offen gesagt, hatte ich mit einem größeren Ort gerechnet. Du kannst dir sicher vorstellen, wie überrascht und erschrocken ich war, als Kylie mir sagte, dass Kangaroo Crossing nur dreizehn Einwohner hat!«
»Sind es wirklich so wenige?« Charlie kratzte sich am Kopf. »Es kommen so viele Leute von den stations und Farmen her, dass ich es nicht einmal bemerkt habe – aber ich bin auch nicht besonders gut im Zählen. In unserer Familie war Ross immer der Klügste. Ich habe ständig die Schule geschwänzt und deshalb nicht viel gelernt.«
»Aber jetzt führst du das Hotel und die Bar?«
»Bier zapfen kann jeder!«
»Und die Buchhaltung?«
»Ich führe keine Bücher.«
»Wer dann?«
»Marty Edwards.«
»Ich wusste gar nicht, dass du einen Partner hast.«
»Habe ich auch nicht. Marty ist der Besitzer des einzigen Geschäfts in der Stadt.«
»Und du vertraust ihm deine Bücher an?«
»Natürlich – er ist ein Freund!«
»Wie kannst du so naiv sein, Charlie?«
»Was meinst du damit? Marty ist treu wie Gold und so ehrlich, wie der Tag lang ist!«
Estella seufzte ungeduldig. »Mein Mann war ... ist Rechtsanwalt, und viele seiner Mandanten sind Leute, die Freunden zu sehr vertraut haben.«
»Das sind Städter. Hier auf dem Land sind die Leute ehrlich.«
»Die Menschen sind überall gleich. Aber musst du nicht wenigstens das Geld für die Drinks zählen?«
Charlie lachte. »Das wird alles ins Buch geschrieben.«
Estella war nicht sicher, ob sie richtig gehört hatte. »Willst du damit sagen, deine Gäste bezahlen ihre Getränke gar nicht?«
»Doch, natürlich – ab und zu.«
»Du liebe Zeit! Wie kann man so ein Hotel und eine Bar führen?«
»Im Outback macht man es nur so. Sämtliche Läden, Betriebe und Unternehmen. Anders würden sie nicht überleben.«
»Ich begreife nicht, wie sie so überleben können!«
»Die Farmbesitzer bezahlen ihre Leute monatlich, es sei denn, wir haben eine schlimme Dürre. Dann bekommen sie ihr Geld, sobald das Vieh zu den Märkten getrieben wird, falls nach der Dürre überhaupt noch Vieh übrig ist. Und wenn sie dann mit mir abrechnen, hilft Marty mir dabei.«
Estella schüttelte den Kopf. Sie verstand nicht, wie man im Busch Geschäfte machte. »Also hast du keine Ahnung, ob dein Hotel gut oder schlecht läuft?«
»Marty hält mich auf dem Laufenden.«
Estella lachte spöttisch.
»Ich weiß genau, was über die Theke geht, Estella.«
Sie klopfte auf seinen Bauch. »Und ich weiß genau, wohin dein Gewinn geht«, sagte sie lächelnd.
Diesmal war es an Charlie, gekränkt zu sein.
Estella meinte seufzend: »Mir ist alles hier so fremd – aber ich sage lieber nichts mehr.«
Es war so dunkel, dass sie bei dem kleinen Cottage angelangt waren, bevor Estella es überhaupt bemerkt hatte. Charlie stieg die Treppe zur Veranda hinauf und öffnete die Vordertür, die nicht abgeschlossen war. Er griff um den Türpfosten herum und zog an der Lichtkordel. Als der Schein einer Lampe durch die offene Tür nach draußen fiel, meinte Estella verwundert: »Im Krankenhaus brannte eine Petroleumlampe! Ich dachte, die Stadt hätte gar keine
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