Ein Hoffnungsstern am Himmel Roman
kann.«
Estella schüttelte den Kopf. »Aber hier draußen ist doch sicher jeder einsam.«
Kylie runzelte verständnislos die Stirn. »Nein, Missus«, sagte sie. »Man muss nur seine eigene Gesellschaft mögen.«
6
D as Brummen eines Lastwagenmotors und der Klang von Stimmen weckten Estella. Die Vorhänge waren noch zugezogen, doch an den Rändern fiel bereits gleißendes Sonnenlicht ins Zimmer und rahmte das Fenster golden ein. Es musste noch früh sein, doch es war jetzt schon erstickend heiß.
Estella erschrak, als sie einen Mann am Fußende ihres Bettes stehen sah, der aufmerksam ihr Krankenblatt studierte. Einen Augenblick lang wusste sie nicht, wer er war; erst als er den Kopf wandte und sie das Pflaster und die Schwellung dicht über seinem Auge bemerkte, wurde ihr klar, dass es Dr. Dan sein musste. Erstaunt stellte sie fest, dass er kaum noch Ähnlichkeit mit dem Betrunkenen besaß, den sie am Abend zuvor in der Bar des Crossing Hotel gesehen hatte.
In seinem braun karierten, kurzärmligen weiten Hemd und der beigen Freizeithose mit dem schwarzen Gürtel wirkte Dr. Dan wie ein vollkommen anderer Mensch. Glatt rasiert und mit frisch gekämmtem Haar erinnerte er in nichts an den ungepflegten, lallenden Alkoholiker, der inmitten von Zigarettenkippen auf dem Boden der Bar zusammengebrochen war.
Trotzdem überraschte Estella seine Kleidung. Sie hatte ein paar Wochen zuvor einige bebilderte Bücher über Rinderzucht gelesen, und Dr. Dan sah eher so aus wie einer der Viehtreiber auf den Fotos als wie ein Arzt. Sein gebräuntes Gesicht und die ebenfalls tief gebräunten Arme, die von goldblonden Härchen bedeckt waren, ließen erkennen, dass er mehr Zeit im Freien als im Krankenhaus verbrachte. Verlegen warf Estellaeinen Blick auf ihre weißen Arme. Sie sah aus, als wäre sie monatelang bettlägerig gewesen. Dabei hatte am Abend zuvor eher Dr. Dan den Eindruck gemacht, als habe er nicht viel mehr als einige Monate zu leben.
Nichts an ihm erinnerte an den Betrunkenen, der im Flur des Krankenhauses gelegen hatte. Der Mann gestern hätte ein Landstreicher sein können, eher sechzig als fünfzig Jahre alt, doch im Licht des neuen Tages wirkte Dr. Dan, jetzt sauber und nüchtern, nicht viel älter als Ende dreißig.
»Was für einen Unterschied ein Tag machen kann«, murmelte Estella.
Dr. Dan blickte auf und lächelte ihr zu. Estella bemerkte mehrere kleinere Narben in seinem Gesicht und auf der Stirn, zweifellos Verletzungen, die er sich bei anderen Gelegenheiten im Rausch zugezogen hatte.
»Guten Morgen«, sagte er mit einem Blick auf ihr Krankenblatt. »Tut mir Leid, aber hier steht nichts davon – Miss oder Mrs. Lawford?«
»Estella.«
»Oh.« Dr. Dan war die Bitterkeit in ihrer Stimme nicht entgangen, doch er war zu taktvoll, ihr persönliche Fragen zu stellen. »Also, Estella, ich bin Dan Dugan, der Arzt von Kangaroo Crossing – aber Dan reicht vollkommen. Wie fühlen Sie sich heute?« Seine Stimme klang sanft, und er sprach sehr deutlich.
Genau wie über seine äußere Erscheinung wunderte Estella sich auch über seinen Zustand. Sie hatte nicht erwartet, ihm überhaupt zu begegnen, und wenn, hätte sie darauf gewettet, dass er wegen eines schrecklichen Katers und des geschwollenen Auges schlecht gelaunt und einsilbig sein würde.
»Danke, mir geht es gut«, erwiderte sie zurückhaltend. Sie stellte fest, dass er sie mit Interesse musterte und sah, dass seine Augen von einem hellen Grün waren, was ihm etwas Liebenswertes verlieh und ihn gleichzeitig verletzlich wirken ließ.Estella war sicher, dass er sich nicht mehr an ihr kurzes Zusammentreffen vom Abend zuvor erinnerte.
»Um ehrlich zu sein, ich bin halb verhungert«, gestand sie plötzlich zu ihrer eigenen Überraschung. Sie hatte mehr Hunger als jemals zuvor in den vergangenen Wochen, und ihr fiel auf, dass heute der erste Morgen seit langer Zeit war, an dem die Übelkeit sie nicht schon beim Aufwachen überfiel.
»Das ist ein gutes Zeichen. Sie scheinen recht gesund zu sein, vielleicht ein wenig müde nach ihrer langen Reise von England herüber – aber das war ja wohl nicht anders zu erwarten, nicht wahr?«
Es überraschte Estella, dass er einiges über sie zu wissen schien. »Ich nehme es an.« Sie fühlte sich wohl, und auch wenn sie Dan Dugans Urteil noch nicht recht vertraute, so tat es doch gut, ihn sagen zu hören, dass sie gesund zu sein schien.
Dan musterte sie eine Weile eingehend, und Estella wurde unbehaglich zumute. Ob er
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