Ein Hoffnungsstern am Himmel Roman
ausgebildete Kräfte sehen keine Zukunft in einer so kleinen Stadt.« Estella überlegte, ob das vielleicht Dans Problem war – ob er Kangaroo Crossing hasste und so viel trank, um sich zu betäuben. Falls das zutraf, war er ein schwacher Mensch, denn andere hatten sicher das gleiche Problem und kamen damit zurecht.
»Die Stadt mag klein sein, aber die Menschen in dieser Gegend könnten ohne sie nicht überleben. Und es muss sehr viel getan werden, um die Bedürfnisse der Leute zu erfüllen.«
Estella meinte Bitterkeit in seiner Stimme zu hören.
»Die Einsamkeit hier draußen fordert natürlich ihren Tribut.« Ein Anflug von Schmerz huschte über seine Züge, und Estella fühlte sich bestätigt.
»Es braucht eine bestimmte Art von Menschen, um damit zurechtzukommen«, sagte Dan und starrte aus dem Fenster.
»Und woher weiß man, dass man zu diesen Menschen gehört?«
»Das weiß man nicht. Man findet es erst im Lauf der Zeit heraus, und die vergeht hier draußen manchmal sehr langsam.«
Dr. Dan verließ den Raum. Estella blickte ihm nachdenklich hinterher. Ob er sich als Gefangener fühlte, weil er keinen Nachfolger fand? Sie selbst konnte nur hoffen, dass es ihr nicht ebenso erging. Was, wenn sie in ein paar Jahren tatsächlich genügend Geld gespart hatte, um mit ihrem Kind fortzugehen, dann aber ebenfalls hier gefangen war? Schaudernd zwang sie sich, an etwas anderes zu denken.
Estella wurde aus ihren Gedanken gerissen, als Kylie ins Zimmer kam. Um die Schultern trug sie das rote Cape der Schwesterntracht. Estella war ein wenig verwundert über diese Förmlichkeit. Immerhin gab es keine Oberschwester, die über die Einhaltung der Kleiderordnung wachte, und Dr. Dan selbst trug Freizeitkleidung.
»Ist Ihr Dienst jetzt zu Ende?«, erkundigte sich Estella.
»Ja, in ein paar Minuten. Wie lautet Dr. Dans Diagnose?«
Estella lächelte. »Ich bin kerngesund. Aber das hätte ich ihm auch gleich sagen können.«
»Trotzdem ist es immer beruhigend, wenn man es von einem Arzt hört, nicht wahr, Missus Estella?«
Estella nickte. »Wo haben Sie Ihre Ausbildung gemacht, Kylie?«
»In der Stadt, im Royal Adelaide Hospital. Ich war die erste Aborigine, die dort gelernt hat. Nach mir sind noch zwei andere dort gewesen. Phyllis Edwards, die mit ihrem Vater Marty zusammen das Geschäft hier im Ort führt, hat drei Aborigine-Mädchen das Lesen und Schreiben beigebracht, aber ich konnte noch keine von den dreien überreden, die Aufnahmeprüfung zu machen. Dabei könnten wir mehr Personal gut gebrauchen.«
Estella vermutete, dass es Phyllis gewesen war, die sie auf der Ladefläche des Lastwagens gesehen hatte.
»Dann können Sie nicht mehr so jung sein, wie Sie aussehen, Kylie – und Sie wirken keinen Tag älter als neunzehn!«, meinte sie.
»Ich bin dreiundzwanzig«, erwiderte die Schwester.
Estella war überrascht.
»Wenn ich noch bei meinen Leuten in der Nepabunna-Missionsstation wohnen würde, hätte ich jetzt schon fünf oder sechs Kinder.« Estella starrte Kylie erschrocken an. »In unserer Kultur«, erklärte Kylie, »wird ein Mädchen meist schon nach ihrer zweiten oder dritten Menstruation schwanger.«
»Aber die Gesetze erlauben doch sicher nicht, so früh zu heiraten?«
»Bei uns heiraten die Mädchen nur selten – jedenfalls nicht so, wie Sie es kennen, Missus Estella. Der Kindsvater kann einer von verschiedenen Liebhabern aus dem Stamm sein.«
Estella traute ihren Ohren nicht.
»In der Aborigine-Gesellschaft ist alles anders, als Sie es kennen, Missus Estella. Wir leben in einer großen Familie, in der sich alle gemeinsam um die Kinder kümmern, egal, zu wem sie gehören.«
Estella musste sich eingestehen, fast nichts über andere Kulturen zu wissen, und damit auch nichts über das Leben der australischen Ureinwohner. »Gestern Abend sprachen Sie von Aborigine-Frauen und Kindern hier in der Stadt. Dann gibt es also auch Ehen zwischen Weißen und Aborigines?«
»Ja, Missus. Hier im Busch leben nur wenige weiße Frauen, deshalb ist es nicht ungewöhnlich, dass weiße Männer lubras heiraten, Aborigine-Frauen. Aber die lubras gehen trotzdem mit ihrem Stamm walkabout und nehmen die Kinder mit. Ihre Kultur ist ihnen sehr wichtig.«
»Charlie hat auch schon davon gesprochen, dass die Aborigine-Frauen walkabout gegangen sind. Was genau bedeutet das?«
» Walkabout ist eine Sitte, manchmal auch eine religiöse Erfahrung – wie wenn die Weißen zur Kirche gehen.« Kylielächelte. »Aborigines sind
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