Ein Hoffnungsstern am Himmel Roman
bin die neue Tierärztin. Ich kann nirgendwo anders hin und muss die Praxisräume benutzen, also bleibe ich hier.«
» Ich bleiben hier«, beharrte Mai.
»Das können Sie nicht.«
»Ich bleiben!«
Die Diskussion drehte sich im Kreis. »Können Sie nicht wieder ... walkabout gehen?«
Mai sah schrecklich wütend aus, und Estella fürchtete, dass sie den Stock tatsächlich benutzte. Deshalb hob sie wieder den Besenstiel. Sie sah keine andere Möglichkeit, denn sie hätte nicht fortgehen können, selbst wenn sie es gewollt hätte.
Mai rief etwas in ihrer Muttersprache und verschwand durch die Hintertür, gefolgt von der Kleinen. Estella wartete eine Weile, bis sie aufstand und nach draußen spähte. Siehoffte, dass die beiden verschwunden waren. Doch ihre Hoffnung wurde enttäuscht. Entsetzt beobachtete sie, wie Mai ein kleines totes Känguru durch den Staub hinter sich her schleifte, um es dann ins Feuer zu legen. Das Tier hinterließ eine lange Blutspur auf dem Boden – und es war nicht einmal abgezogen!
»Was tun Sie da?«, rief Estella angewidert.
Mai wandte sich um. »Binnie Hunger«, sagte sie.
Estella musste würgen, als der Geruch versengten Fells und brennenden Fleisches die Luft erfüllte. Sie stolperte ins Haus, schlug die Tür hinter sich zu und ging ins Badezimmer, wo sie ein Becken mit kaltem Wasser füllte und sich das Gesicht wusch. »Das ist unerträglich«, murmelte sie. Am liebsten wäre sie zu Charlie gegangen, um die Wahrheit herauszufinden, doch sie fürchtete, Mai würde sie aus dem Haus aussperren, sobald sie fort war. Stattdessen ging sie mit zitternden Beinen ins Schlafzimmer, schloss die Tür und legte sich hin. Sie war so müde, dass sie keinen klaren Gedanken fassen konnte, geschweige denn, sich mit einer Verrückten zu befassen.
Als Estella erwachte, wusste sie nicht, wie spät es war. Durch das geschlossene Fenster hindurch hörte sie jemanden kreischen – oder war es Gesang? Estella ging durch das stille, dunkle Haus, öffnete die Hintertür und spähte hinaus. Der scheußliche Geruch nach verkohltem Fleisch stieg ihr in die Nase. Neben dem Lagerfeuer saß Mai und trank aus einer Flasche. Entsetzt sah Estella, dass sie völlig betrunken war. Auf der Suche nach dem Mädchen ließ Estella den Blick durch die Dunkelheit schweifen und sah schließlich auf der anderen Seite des Feuers eine kleine schlafende Gestalt im Staub. Estella fühlte, wie Zorn in ihr aufstieg, gepaart mit Ekel, vor allem aber Traurigkeit. Sie hätte Binnie gern ins Haus geholt, war sich aber sicher, dass Mai es nicht dulden würde.
»Mai!«, rief sie.
Zuerst schien die Aborigine-Frau sie nicht zu hören, und sorief Estella ein zweites Mal. Endlich blickte Mai auf und starrte sie mit trübem Blick an.
»Bitte, seien Sie still. Ihr Kind schläft, und ich würde auch gern ein wenig schlafen.«
Mai rief irgendetwas in ihrer Sprache und kicherte hämisch. Dann begann sie wieder zu singen und mit sich selbst zu sprechen. Estella beobachtete schaudernd, wie sie sich mühsam aufrappelte und zu tanzen begann. Mit den Armen ruderte sie in der Luft herum; die Füße stampften im Staub den Takt. Der Inhalt der Flasche ergoss sich über sie, doch sie bemerkte es nicht einmal. Erst als die Flasche ihren Fingern entglitt und am Boden zerplatzte, fluchte sie laut.
Estella konnte es nicht mehr ertragen. Sie schlug die Hintertür zu. »O Gott!«, stieß sie hervor. »Was wird als Nächstes geschehen?«
10
N ach einer schlaflosen Nacht, die erfüllt war von Sorgen um Binnie in der Obhut ihrer anscheinend verantwortungslosen Mutter, stand Estella auf. Sie stellte fest, dass die beiden verschwunden waren. Sogar die Asche des Lagerfeuers war verstreut worden, sodass man kaum noch eine Spur davon sah. Estella fand all das sehr seltsam. Wären nicht ihre Müdigkeit und die Samenhülsen unter dem Küchentisch gewesen, hätte sie das Ganze für einen Albtraum gehalten.
Auf dem Weg zu Stargazers Stall schaute sie kurz im Hotel vorbei. Es war noch früh, offensichtlich zu früh für Charlie, der aussah, als habe er eine schlechte Nacht gehabt.
»Warum hast du mir nicht erzählt, dass Ross eine Aborigine-Frau und ein Kind hatte?«, fragte Estella.
Noch halb verschlafen, starrte ihr Onkel sie verwirrt an.
»Es wäre rücksichtsvoll gewesen, hättest du es mir erzählt, Charlie. Mai ist gestern Abend bei mir aufgetaucht und wollte mich aus ihrem Haus vertreiben!«
Charlies Verwunderung wich einem erheiterten Grinsen. »Dann
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