Ein Hoffnungsstern am Himmel Roman
habt ihr euch also kennen gelernt, du und Mai?«
Estella schnaubte ärgerlich. »Ich finde das nicht sehr komisch. Und ich glaube nicht, dass ich noch mehr solche Überraschungen ertragen kann. In den vergangenen Wochen hatte ich mehr davon als andere in ihrem ganzen Leben. Jetzt ist es genug.«
Statt einzusehen, dass er tatsächlich unsensibel war, murmelte Charlie: »Mein Gott, bist du empfindlich!«
Estella funkelte ihn wütend an.
Er zuckte mit den Schultern. »Schon gut. Ich weiß, ich bin manchmal ziemlich dickfellig.« Er hatte vergessen, wie dünnhäutig weiße Frauen sein konnten, und erneuerte seinen Vorsatz, sich nur mit Aborigine-Frauen einzulassen.
»Dickfellig? Das ist stark untertrieben«, erwiderte Estella.
»Mai war nur selten da, als Ross noch lebte. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie nach seinem Tod nach Kangaroo Crossing zurückkommen würde. Deshalb habe ich dir nichts davon erzählt. Außerdem scheinst du dich vor Aborigine-Frauen zu fürchten, wenn ich an Edna denke.«
Estella wurde ein wenig verlegen. Sie wusste, dass sie ihr Erschrecken nicht hatte verbergen können, als sie Edna das erste Mal gesehen hatte. »Es ist also wahr – Ross war mit Mai verheiratet, und Binnie ist ihr gemeinsames Kind?«
»Ja. Sie haben nach Stammessitte geheiratet. Von Ross haben Mai und Binnie auch ihre paar Brocken Englisch gelernt.« Charlie war bei der Hochzeit so betrunken gewesen, dass er sie nur wie durch einen Schleier erlebt hatte. »Das europäische Recht erkennt diese Ehen aber nicht an. Also kann Mai das Haus nicht für sich beanspruchen, wenn es das ist, was dir Sorgen macht.«
Estella lachte bitter auf. »Mai hat wenig Zweifel daran gelassen, dass Ross ihr rechtmäßiger Ehemann war, also könnte ich sie oder das Kind niemals mit gutem Gewissen fortschicken.« Sie hatte noch immer ein schlechtes Gewissen, dass sie so etwas ernsthaft erwogen hatte. »Ich habe meinen Vater nicht gekannt, aber ich begreife nicht, wie er mit Mai eine Beziehung haben konnte. Sie ist feindselig, laut, unordentlich, und sie trinkt ... Wenn Ross eine Frau wie Mai heiraten konnte, muss es eine Seite an ihm gegeben haben, über die ich noch nichts weiß.«
»Ross war einsam«, erwiderte Charlie und rieb sich die unrasierte Wange. »Ein Mann hat nun mal gewisse Bedürfnisse, und hier gibt es weit und breit kein Bordell ...«
Er sah, dass Estella ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrte, und erkannte, dass er zu weit gegangen war. Rasch fuhr er fort: »Mai war immer ein bisschen ungestüm, aber Ross hatte wohl einen besänftigenden Einfluss auf sie. Auf ihre unkonventionelle Weise hat sie ihn sehr geliebt. Ich bin sicher, dass sein Tod ihr schrecklich zu schaffen macht. Wahrscheinlich ist sie außer sich vor Kummer.«
»Sie hat die halbe Nacht so laut geschrien und gekreischt, dass ich kein Auge zugetan habe«, meinte Estella. »Wie ist Ross nur damit zurechtgekommen?«
»Das ist nun mal Mais Art zu trauern.«
»Trauer? Sie hat getrunken wie ein Seemann. Ich bin sicher, dass sie vollkommen betrunken war.«
Charlie hob abwehrend die Hände. »Mach mir deswegen keinen Vorwurf – ich verkaufe keinen Alkohol an die Aborigines. Sie können nicht damit umgehen. Außerdem verstößt es gegen das Gesetz.« Charlie wusste, dass die Aborigines trotzdem leicht an Alkohol herankamen. Die Besitzer der stations und Farmen bezahlten ihre einheimischen Arbeitskräfte oft mit Schnaps, und ab und zu verkaufte er selbst etwas an Viehtreiber, in deren Adern auch weißes Blut floss. Aber niemals gab er Aborigine-Frauen einen Tropfen Alkohol.
»Nun, irgendwoher hat sie die Flasche jedenfalls bekommen. Ich konnte auch deshalb nicht schlafen, weil ich mir Sorgen um das Kind mache.«
»Binnie geht es gut, Estella. Die anderen Mitglieder des Clans werden sich um sie kümmern, wenn Mai es nicht tut.«
»Mai hat einen Stock in der Luft geschwenkt, als wollte sie mich damit schlagen, und sie hat keinerlei Rücksicht auf Binnie genommen, die ebenso erschrocken war wie ich.«
»Mai würde dich nicht verletzen – es sei denn, du provozierst sie. Ich weiß allerdings nicht, zu was sie dann fähig wäre.«
Estella wurde bleich vor Schreck. »Ich habe nur einen Besenstiel in die Hand genommen, um mich zu verteidigen!«
Charlie blickte sie entsetzt an. »Du lieber Himmel, Estella – das hätte sie als Aufforderung zum Kampf verstehen können!«
»Ich weiß nicht, wie Frauen in diesem Teil der Welt sich verhalten, Charlie«, meinte
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