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Ein Hologramm für den König

Ein Hologramm für den König

Titel: Ein Hologramm für den König Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dave Eggers
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würde. Er machte ein Streichholz an und sterilisierte die Klinge, so gut es eben ging. Dann nahm er das Messer und drehte es langsam in die Geschwulst. Er spürte Schmerz, aber nur die Art Schmerz, die man bei einem Schnitt in die Haut normalerweise erwarten würde. Als er die Geschwulst erreichte, und das merkte er Sekunden später, spürte er nichts Ungewöhnliches. Bloß Schmerz. Normalen, faszinierenden Schmerz. Die Blutung war minimal. Er stillte sie mit einem Handtuch.
    Was hatte er herausgefunden? Dass es eine Art Zyste war, irgendwas ohne Nerven. Dass es ihn nicht umbringen würde. Dass er das Messer nicht richtig sterilisiert hatte.
    Das könnte ein Problem sein. Dennoch, zufrieden mit seinem chirurgischen Geschick, ging er zum Balkon und sah aus dem Fenster hinunter auf die Küstenstraße und all die winzigen Reisenden. Das Rote Meer lag dahinter, träge, dem Untergang geweiht. Die Saudis saugten es trocken, um zu trinken zu haben. In den Siebzigern hatten sie Milliarden Liter abgepumpt, entsalzen und damit ihren abwegigen Weizenanbau bewässert – ein Projekt, das längst eingestellt worden war. Jetzt tranken sie das Meer. Mein Gott, dachte er, hatten Menschen in diesem Teil der Welt überhaupt was zu suchen? Die Erde ist ein Tier, das seine Flöhe abschüttelt, wenn sie sich zu tief hineinbohren, zu fest beißen. Bewegt sie sich, stürzen unsere Städte ein; seufzt sie, werden die Küsten überflutet. Wir sollten gar nicht hier sein.
    »Liebe Kit, das Entscheidende ist die kontrollierte Wahrnehmung Deiner Rolle in der Welt und in der Geschichte. Denkst Du zu viel, weißt Du, dass Du nichts bist. Denkst Du gerade genug, weißt Du, dass Du klein bist, aber wichtig für manche. Mehr kann man nicht tun.«
    Scheiße, dachte er. Das würde sie wohl kaum inspirieren. Das würde er nicht zu Papier bringen müssen.
    »Kit, Du hast in Deinem Brief erwähnt, wie wir Deine Mom mal zusammen von der Polizei abgeholt haben. Ich wusste nicht, dass Du das weißt.«
    Sie hatte Kit von der Sache erzählt.
    „Du warst erst sechs. Wir haben nie darüber gesprochen, nachdem das passiert war. Ja, sie war alkoholisiert Auto gefahren. Sie war schlafend in ihrem Wagen gefunden worden, nachdem sie in ein Schaufenster gekracht war. Mir ist nicht klar, woher Du das alles weißt. Hat sie es Dir erzählt?«
    Genau davor nahm Kit Reißaus. Vor der Überlastung. Davor, dass ihre Mutter ständig alles ungefiltert bei ihr ablud.
    »Falls sie es Dir erzählt hat, hätte sie das nicht tun sollen.«
    Alan hatte geschlafen, als der Anruf kam. – Sind Sie Alan Clay, Ehemann von Ruby Clay? Sie war in einer Ausnüchterungszelle in Newton. Ihm blieb nichts anderes übrig, als Kit ins Auto zu packen und loszufahren, um Ruby abzuholen, die noch immer besoffen war, als er sie einsammelte. Hab mir gedacht, dass du kommen würdest, sagte sie zu ihm. Das war als eine Art Vorwurf gemeint, eine Art Herabsetzung. Zu Kit sagte sie Hi , Schätzchen und schlief auf der Fahrt nach Hause ein.
    »Liebe Kit, ist Dir eine aufregende Frau wie Deine Mom nicht lieber als irgendeine vorhersehbare –
    Deine Mutter ist eine Ausnahmeerscheinung. Eine aufregende Hochleistungs-«
    Jetzt beschrieb er einen Sportwagen. Wollten Kinder Sportwagen als Eltern? Nein. Sie wollten Hondas. Sie wollten sicher sein, dass das Auto in allen Jahreszeiten ansprang.
    »Kit, weißt Du, was der Schlüssel für Deinen jetzigen Umgang mit Deinen Eltern ist? Gnade. Wenn Kinder zu Teenagern und dann zu jungen Erwachsenen heranreifen, werden sie unversöhnlich. Alles außer Perfektion ist Pathos. Kinder verurteilen in alttestamentarischer Manier. Alle Fehler sind unverzeihlich, als ob ein Perfektionsvertrag gebrochen worden ist. Aber wie wäre es, wenn Eltern dieselbe Gnade gewährt wird, dasselbe Mitgefühl wie anderen Menschen? Kinder brauchen etwas mehr Jesus in sich.«
    Jetzt war etwas Nasses auf seinem Rücken, ein Rinnsal, das zu seiner Taille floss. Er blickte auf, dachte an Regen. Dann wusste er, was es war. Blut. Er hatte vergessen, seine OP-Wunde zu reinigen oder zu verbinden. Er ging wieder rein, zog sein Hemd aus und verdrehte sich vor dem Spiegel. Nicht so schlimm, wie er gedacht hatte – ein Trio aus hochroten Ranken bahnte sich einen Weg zu seiner Taille. Er trocknete sie mit einem anderen Handtuch. Er dachte an die Leute in der Reinigung, die das Blut aus diesem weißen Hemd entfernen würden. Sie würden keine Fragen stellen.
    Wir haben keine Gewerkschaften. Wir haben

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