Ein Hologramm für den König
zur Schule gekommen, auch nicht zum Training oder sonst was. Überleg doch mal! Es war ein kompliziertes System aus täglichen Mahlzeiten, Terminen, Untersuchungen, aufgestellten und durchgesetzten Regeln, erbetenem und gewährtem Verständnis, grausam empfundener und unterdrückter Frustration. Das soll nicht heißen, dass es langsam ging oder zu lang schien. Bloß, dass es nicht schnell war.«
Den Teil würde er wahrscheinlich streichen müssen. Es hörte sich nicht richtig an, wie er es auch formulierte. Aber es entsprach der Wahrheit. Ein Kind großziehen ist wie der Bau einer Kathedrale. Du kannst es nicht abkürzen.
»Also, kann ich bitte etwas Nachsicht bekommen? Sei nicht so streng mit uns beiden. Ich weiß noch, wann mir klar wurde, dass meine Eltern Heuchler waren wie alle anderen. Ich war achtzehn. Und danach war ich berauscht von der Macht, die diese Erkenntnis mir gebracht hatte. Aber was wusste ich schon? Ich schätze, mir war klar geworden, dass sie hin und wieder logen. Und dass meine Mom Tabletten schluckte, eine Zeit lang Morphium genommen hatte, als ich kleiner war. Also hab ich mich ihnen gegenüber aufgespielt. Ich war die perfektionierte Version von ihnen, dachte ich. Da muss man doch irgendwie an junge Nazis denken oder an die Khmer Rouge, nicht? Kinder, die voller Einbildung und Stolz auf ihre Reinheit die Erwachsenen auf den Reisfeldern erschießen.«
Er legte den Stift hin. Er konnte das Blatt kaum noch sehen.
Er stand auf, und die Zimmerdecke kreiselte über ihm. Er fiel aufs Bett und blickte die Wand an. Er hatte den Schnaps unterschätzt. Selbst als er dessen Stärke gespürt hatte, hatte er ihn unterschätzt. Hanne, du Aas!, dachte er. Ich liebe diese Welt wirklich, dachte er. Die Machart dieser Wand. Ich liebe die Leute, die sie gebaut haben. Sie haben hier gute Dinge getan.
XVI.
ALAN ÖFFNETE DIE AUGEN. 10.08 Uhr. Er hatte den Shuttle schon wieder verpasst. Er würde Yousef anrufen.
Er schwang die Beine vom Bett und stand im dunklen Zimmer. Er wusste, dass der Tag hinter den schweren Vorhängen hell war, zu hell, um daran teilzuhaben. Er spürte einen heftigen Schmerz im Nacken. Er nahm sich vor, dem in der Dusche auf den Grund zu gehen.
Er stand da und betrachtete sich im Spiegel über dem Schreibtisch. Sein Gesicht war arg mitgenommen, die Wangen sackten Richtung Unterkiefer, und das Doppelkinn darunter verschwand ungebremst im Hemd.
In der Dusche wusch er sich Haare und Körper und dachte, Wer ist dieser Mann, der es geschafft hat, den Shuttle nicht nur einmal, sondern zweimal in drei Tagen zu verpassen? Wer ist dieser Mann, der es geschafft hat, schon wieder um zehn Uhr morgens aufzuwachen, der garantiert Anrufe auf sein Handy, Klopfen an der Tür überhört hat?
In diesem Moment hatte er eine klare Erinnerung an eine Frau, die anklopfte und Alan? Alan?, sagte. Er hatte sie angeschnauzt, weggeschickt, gedacht, sie wäre ein Zimmermädchen. Aber jetzt wurde ihm klar, dass ein Zimmermädchen nicht seinen Vornamen gerufen hätte. Es musste Rachel oder Cayley gewesen sein. Es war Rachel. Das wusste er jetzt.
Er trocknete sich ab und griff zum Hoteltelefon. Es war ausgestöpselt. Wann hatte er das gemacht? An einen Großteil der vergangenen Nacht konnte er sich erinnern, aber ab einem bestimmten Punkt war alles schwarz. Er entdeckte eine Delle in der Badezimmertür, in Fußhöhe. Sein Laptop lag unter dem Bett. Ein Geistesblitz: War sein Zimmer durchsucht worden? Vielleicht waren Hannes Sorgen wegen der Geheimpolizei begründet. Die Mutawa war hier gewesen. Sie hatten ihr Telefonat abgehört und waren bei ihm eingebrochen, um der Sache nachzugehen, während er schlief. Nein. Jedenfalls war die Schnapsflasche noch da, halb voll.
Er rief Yousef an.
– Haben Sie Zeit?
– Alan? Sie klingen schrecklich. Sind Sie überfallen worden?
– Können Sie mich nach KAEC fahren?
– Klar. Aber ich muss Sie das fragen: Verpassen Sie diese Shuttles mit Absicht, um mehr Zeit mit Yousef zu verbringen, Ihrem Reiseführer und Helden?
– Sie reden zu viel, sagte Alan.
– Ich bin in zwanzig Minuten da.
Alan schob die schweren Arme durch ein sauberes Hemd und hatte das Gefühl, die makellose Baumwolle zu verschandeln. Beim Zuknöpfen scheuerte der Kragen an seinem Hals, und der Schmerz war extrem. Er ging zum Badezimmerspiegel und drehte sich hin und her, aber er konnte nichts sehen. Er brauchte zwei strategisch platzierte Spiegel, um etwas zu sehen, das wie eine Einschusswunde aussah.
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