Ein Hologramm für den König
und auf CD übertrug. Er hatte sie alle auf seinen Laptop aufgespielt, und da waren sie jetzt, Fotos aus seiner eigenen Kindheit, aus seinem Leben mit Ruby, von Kits Geburt und wie sie aufgewachsen war. Irgendwer, Kit oder die Digitalisierer, hatte sie alle mehr oder weniger chronologisch geordnet, und jetzt konnte er die Riesenmenge Fotos, eine Dokumentation seines Lebens, in Minuten durchsehen, was er auch häufig tat. Er musste lediglich den Finger auf den nach links zeigenden Pfeil halten. Es war zu einfach. Es war nicht gut. Es ließ ihn in einem gefährlichen Stillstand aus Nostalgie und Bedauern und Entsetzen verharren.
Alan trank wieder einen Schluck. Er klappte den Computer zu und ging ins Bad, wo er überlegte, sich zu rasieren. Er überlegte zu duschen. Er überlegte, ein Bad zu nehmen. Stattdessen fasste er sich in den Nacken. Die Geschwulst war hart, gerundet, aber halbiert, und sie hob sich von der Wirbelsäule ab wie eine winzige Faust.
Er drückte darauf und spürte keinen Schmerz. Sie war kein Teil von ihm. Sie hatte keine Nervenenden. Sie konnte nichts Ernstes sein. Aber was war sie dann? Er drückte fester, und jetzt spürte er einen Schmerz, der ihm die Wirbelsäule hinunterjagte. Sie war verbunden. Sie war ein Tumor, der mit seinem Rückenmark verbunden war, und bald würde sie durch den Nervenkanal Krebs nach oben und unten schicken, in sein Gehirn, in seine Füße, überallhin.
Es kam alles zusammen. Ein einst vitaler Mann wurde dadurch gehemmt, durch einen langsam wachsenden Tumor, der ihn zu einem Schatten seiner selbst machte. Er brauchte einen Arzt.
Er schaltete den Fernseher ein. Die Nachrichten brachten irgendwas über die Entsendung einer türkischen Flotte Richtung Gazastreifen. Humanitäre Hilfe, sagten sie. Katastrophe, dachte er. Er trank wieder einen Schluck. Seit den letzten paar Schlucken, so wurde ihm klar, war er nicht mehr nur angeheitert, sondern ihm war schwindelig. Die Taubheit erfasste den Bereich um seine Nase. Er nahm sein Glas, ließ den letzten Tropfen heraus und in die Kehle rinnen.
Ruby lachte laut und stritt laut. Auf Bürgersteigen benahm sie sich am furchtlosesten. Unterstehen Sie sich, das Kind zu schlagen , sagte sie zu einer Fremden, als sie aus Toys»R«Us kamen. Kit war fünf. Ruby hatte nie irgendeine dialektale Einfärbung gehabt, aber sie sprach diese Worte mit einem näselnden Tonfall, und Alan konnte nur vermuten, dass sie meinte, eine ländliche Herkunft vortäuschen zu müssen, um sich einmischen zu können, weil die Klassenunterschiede zwischen ihnen dadurch verschwänden.
Alan hörte die Worte und ging mit Kit weiter; er wusste, dass Ärger drohte. Gleich darauf war er im Wagen, Kit angeschnallt in ihrem Kindersitz, und wartete auf dem Parkplatz. Er hatte gewusst, dass Ruby irgendwas sagen würde, als sie an der Frau vorbeigingen, die ihrem Kind den Hintern versohlte, und er hatte gewusst, dass die Frau irgendwas entgegnen würde, und er wollte nichts davon mitkriegen. Er hatte nicht geahnt, dass die Sache eskalieren würde, doch als Ruby zum Wagen kam, weinte sie und ihr Gesicht war rot. Sie war geohrfeigt worden. Das Miststück hat mich geschlagen, unglaublich, oder?
Er fand es nicht unglaublich. Die Frau hatte haargenau wie die Sorte Frau gewirkt, die jemanden schlagen würde. Immerhin hatte sie ihrem Sohn den Hintern versohlt – durchaus anzunehmen, dass sie eine Fremde, die sie deshalb anmeckerte, schlagen würde. Solche Episoden waren schon zu oft vorgekommen. Auseinandersetzungen im Supermarkt wegen labberiger Möhren hatten zu Schreierei und Beleidigungen geführt, eine Szene, die allen in ihrer kleinen Stadt unvergesslich geblieben war. Bald mussten sie zwei Meilen weiter zu einem anderen Supermarkt fahren. Ruby konnte bei einem simplen Meinungsaustausch über ein konkretes Problem plötzlich verallgemeinernde Aussagen über Leben und Sinnhaftigkeit ihrer Widersacher machen, Ihr Scheißloser! Ihr Heuchler! Ihr Scheißsupermarktzombies!
Die Geschwulst im Nacken lockte ihn wieder. Wenn sie kein Teil von ihm war, würde es nicht schaden hineinzupiksen. Nur so konnte er sie testen. Sich Gewissheit verschaffen. Wenn sie er war – wenn sie ein deformierter Teil seiner Wirbelsäule war –, würde es wehtun, wenn er sie mit irgendetwas Scharfem öffnete.
Er trank einen großen Schluck aus der Flasche und stand Sekunden später vor dem Spiegel, in der Hand ein gezacktes Messer vom Abendessen. Er hatte eine vage Ahnung, dass er es bereuen
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