Ein Hueter erwacht
ihn in die Höhe. Wankend wie ein Halm im Wind stand er schließlich da - und stürzte doch wieder zu Boden.
Von neuem und noch ärger flammte der alte Schmerz auf, wob ihn wieder ein in Schwärze, die ihn alles vergessen lassen wollte - und es doch nicht vermochte.
Weil etwas anderes geschah; etwas, das ihn mit grausamer Brutalität in die Realität zurückzerrte!
Die Tür des Häuschens schwang auf. Schatten drängten über die Schwelle. Unter Radheys Blicken schienen sie hereinzuschweben, aber er hörte ihre Schritte, die näher kamen, ihn umrundeten und schließlich verstummten. Augen wurden auf ihn gerichtet, und von ihren eisigen Blicken fühlte er sich aufgespießt wie von kalten Klingen, die ihm ins Fleisch fuhren.
»Wer ...?« setzte er an und verstummte gleich wieder, jedoch nur, um zu wimmern und zu winseln wie ein getretener Hund. Zum Schreien fehlte im die Kraft, obgleich er es von Herzen gern getan hätte -- denn die schwarzen Wolken hatten sich etwas gelichtet und ihm den Blick freigegeben auf jene, die ihn da umstanden. Verwesende Fratzen starrten auf ihn herab, bleich schimmerten hier und da Knochen durch das löchrige Fleisch, und ihr Gestank hüllte Radhey ein. Die lebenden Toten aus dem Haus an der Grand Trunk Road! »W-was w-wollt ihr von mir?« stammelte Radhey. »L-laßt m-mich ... bitte! Tut m-mir nichts! Ich ...« »Dennn Kelchchch!«
Es war Radhey unmöglich festzustellen, welcher der Untoten zu ihm gesprochen hatte. Alle zugleich? So hatte es geklungen.
»Ich habe ihn nicht m-mehr«, sagte Radhey hastig. »Er wurde mir . gestohlen!« »Werrr .« ». isst .« ». derrr Dieb?«
Die Worte klangen dumpf, waren schwer verständlich. »Mein ...«, begann Radhey, zögerte einen Moment, ob er die Wahrheit sagen und Dinesh womöglich ans Messer liefern sollte, und tat es dann doch, »mein Bruder hat ihn genommen und fortgebracht.« »Erwarrrtessst .« »... du ihnnn ...« »... zurrrückck?«
»Meinen Bruder?« hakte Radhey nach. Für den Moment schwand die Furcht aus seiner Stimme, und sein Ton klang resignierend und ein klein wenig wütend zugleich. »Bestimmt kommt der wieder .« »Wirrr .« ». warrrtennn .« »... aufff ihnnn.« Radhey schluckte trocken.
»Und was«, flüsterte er angstvoll, »werdet ihr mit ihm tun? Und -mit mir?«
»Wirrr .« ». werrrden .« ». dichch .« »... bestrrrafennn!«
*
Jug Suraiya starrte noch ins Dunkel des Raumes, nachdem Dinesh Pai längst das Haus verlassen hatte. Schwankend war der junge Mann gegangen, aber das hatte wohl allein vom Alkohol hergerührt, den er getrunken hatte - noch zwei weitere Male hatte Suraiya ihm nachgeschenkt -, nicht jedoch am Kelch selbst.
Einen Beweis dafür, daß er mit seiner Vermutung falsch lag, sah Jug Suraiya darin jedoch nicht. Als wolle er das Gewicht des Gefäßes abschätzen, wog er es in der mageren Hand und sah nachdenklich darauf hinab. Noch immer hielt er das Ding für mehr als irgendein Gefäß, irgendeinen Kelch, sondern für - etwas ganz Besonderes: für den Kelch überhaupt - für den Gral . .. !
Und nur deshalb hatte er Dinesh Pai daraus trinken lassen. Um zu sehen, was daraufhin geschehen würde. Ob der Trunk daraus überhaupt irgendwelche Folgen zeitigte. Nun, es war zwar nichts passiert, dennoch - Jug Suraiya hielt an seinem Verdacht fest. Und er wollte ihn überprüfen.
Schwerfällig erhob er sich. Sein Ächzen klang schauerlich wie das einer ganzen Horde von Geistern, seine Gelenke knackten wie brechendes Holz. Den Kelch in der Hand, schlurfte er aus dem Raum, in den nächsten und weiter bis hin zu einer überladenen Regalwand. Dort drehte er einen verborgenen Knauf, woraufhin das Regal rumpelnd ein Stück in die Wand zurück und schließlich zur Seite glitt. Dahinter lag ein weiteres Zimmer, düsterer noch als die anderen des Hauses und kaum weniger vollgestopft mit allen möglichen Dingen. Trotzdem hätte selbst ein unbedarfter und zufälliger Besucher die Besonderheit dieses Raumes zumindest erahnt - es schien in der Luft zu liegen, und irgendwie war auch die Stille hier von anderer Art als draußen in den anderen Zimmern.
Dies hier war die wahre Schatzkammer Jug Suraiyas. Hier bewahrte der Händler all jene Dinge auf, die er niemals und für keinen Preis der Welt aus den Händen geben würde. Und mitunter handelte es sich dabei auch um Dinge, von denen besser niemand wußte, daß Suraiya sie in seinem Besitz hatte .
Achtlos ging der alte Mann an Artefakten vorüber, die als Heiligtümer
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