Ein Hueter erwacht
sie ihn bestrafen würden.
Er hatte sich geirrt. Sie rührten ihn nicht an, blieben nur weiter im Kreis um ihn herum stehen, stumm und reglos und unüberwindbar.
Ihre Strafe indes war grausamer, als sein Tod es gewesen wäre. Radhey Pai erfuhr es, als sein Bruder Dinesh wie von Furien gehetzt, schweißüberströmt und glitzernden Blickes zur Tür hereinstürzte.
»Hilf mir, Radhey! Bitte, hilf mir!« keuchte Dinesh. Er sah sich um, als wäre da jemand hinter ihm, der ihn jagte. Doch Radhey sah niemanden. Nur das Licht des Tages, der draußen längst begonnen hatte.
Ehe er etwas erwidern konnte, stieß Dinesh gegen einen der lebenden Toten. Der rührte sich unter dem Ansturm um keinen Deut, stand wie festzementiert. Dafür aber bewegten sich die beiden neben ihm stehenden. Ihre Klauen schossen vor, krallten sich in Dines-hs Arme, der kaum wußte, wie ihm geschah, und dann hatten sie ihn auch schon zu Boden geworfen - - um sich noch im selben Moment auf ihn zu stürzen! Die Zwölf begruben Dinesh Pai regelrecht unter sich, und obwohl Radhey nicht recht sah, was sie seinem Bruder antaten, genügte das Wenige, das er erkannte, um sich den furchtbaren Rest vorstellen zu können.
Radhey war ziemlich sicher, daß sie Dinesh »verhörten«. Aber es geschah ohne jedes Wort. Sie schienen Dineshs Wissen unmittelbar anzuzapfen, es ihm zu entreißen - und ihren Bewegungen und den widerlichen Lauten zufolge war dieses Entreißen offenbar wörtlich zu nehmen .
Dineshs Gegenwehr erstarb rasch - schneller jedenfalls, als er selbst starb.
Selbst als sie endlich von ihm abließen, schien noch ein Funke Leben in ihm zu sein. Und er erlosch erst, als Radhey zu Dinesh hingekrochen und seinem stumpf werdenden Blick noch einmal, ein allerletztes Mal begegnete.
Darin sah Radhey Pai die ihm angedrohte Strafe: daß er Zeuge des Todes seines Bruders hatte werden müssen. Und es war noch nicht vorbei .
»Errr hattt .«
»... dennn Kelchch ...«
». forrrtgegebennn .«
». du wirrrssst .«
»... unnnssszzzu ihmmm führrren.«
Die Worte fielen wie Eisregen auf Radhey Pai nieder.
»Aber«, heulte er, »ich . ich weiß nicht, wo er ist!«
»Hierrr!«
Sie teilten das Wissen, das sie Dinesh entrissen hatten, mit Radhey. Stießen es ihm buchstäblich ins Hirn hinein! Er schrie auf, brüllte unter den Schmerzen, endlos lange, wie ihm schien.
Dann endlich verebbte der Schmerz. Und Radhey wußte, was Di-nesh getan hatte - und er wußte, weshalb sie ihn noch am Leben ließen: weil sie ihn brauchten, möglicherweise. Es war ihnen daran gelegen, wenig Aufsehen zu erregen, und dem stand schon ihr Auftreten entgegen. Er, Radhey, konnte sich jedoch unauffällig unter den Menschen bewegen. Er würde ihr Werkzeug und ihr Führer sein.
Und so machte er sich auf, um die Zwölf dorthin zu bringen, wo Dinesh den Kelch zurückgelassen hatte. Er führte sie auf Wegen dorthin, die auch am Tage dunkel blieben. Unsichtbar und unbemerkt schlich der Tod durch Delhi.
*
Jug Suraiya schlug die Augen auf und wünschte sich, sie nie mehr schließen zu müssen - weil er wußte, daß der schreckliche Traum, die bluttriefenden, grausamen Visionen einer furchtbaren Welt auf ewig hinter seinen Lidern lauern würden. Genauso jedoch wußte er, daß es nicht zu verhindern sein würde. Wie lange konnte er ohne Schlaf auskommen? Gewiß, eine ganze Weile. Aber nicht bis ans Ende seines Lebens.
Das Ende seines Lebens .
Jug Suraiya wollte auflachen, aber es wurde nur ein erschöpftes Ächzen daraus.
Er wußte, wo sein Leben enden würde: in diesem Traum. Irgendwann würde er die Visionen nicht mehr verkraften können, und dann, wenn seine Kräfte im Traum erstarben, würde er auf ewig gefangen sein in dieser verdammten Welt .
Der Trunk aus dem Kelch mußte all dies bewirkt haben! Jug Surai-ya war sich dessen ganz sicher, wie er sich nach dem Trunk auch so vieler anderer Dinge sicher war.
Ob es etwas nutzen würde, sich des Kelches zu entledigen, wußte er nicht. Aber es war einen Versuch wert, und überdies wollte er mit dem elenden Ding nichts mehr zu schaffen haben. Es mußte aus seinem Haus verschwinden, vielleicht würde er sich dann zumindest ein klein wenig besser fühlen. Mochte der Kelch anderen Unglück bringen - Menschen, die es seiner Meinung nach nicht besser ver -dient hatten.
Engländer .
Schließlich waren deren Vorfahren es gewesen, die Indien und seinem Volk einst die Würde genommen hatten mit ihrer großkotzigen Kolonialherrschaft.
Suraiya
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