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Ein Hummer macht noch keinen Sommer

Ein Hummer macht noch keinen Sommer

Titel: Ein Hummer macht noch keinen Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Wekwerth
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Tonmeister, ohne aufzuschauen. »Der Waldschrat heeßt Wendelin. Und könnteste deener Stimme wat Schratigeres verleihen?«
    David tupfte sich mit einem Taschentuch die Stirn ab. »Wat Schratigeres?«, wiederholte er ungläubig. Er wollte zurück ins Atelier und verblühte Geranien malen, oder Gladiolen. Aber dort hatte sich ja Tim-Luzifer breitgemacht und hörte stundenlang irgendwelche Popsongs, die genauso hohl waren wie er.
    Wenn ich eine Zaubereichel hätte, dachte David, dann würde ich Tim-Luzifer zur Hölle schicken und Theodor zum Therapeuten. Und …
    »Hallo? Eener zu Hause?«
    »Ich sammele sieben Zaubereicheln und …«
    Ach, Theodor. Bestimmt war er untröstlich. Er hing doch so an ihm. Aber die vielen Meinungsverschiedenheiten der letzten Wochen, das komische Wetter, Theodors Sturheit, sein …
    »Und?«, fragte der Tonmeister nach.
    »… und steck sie in mein Beutelchen …«, sagte David hastig und dachte: … sein Drängen und Bohren und Analysieren und …
    »So wahr …«, half der Tonmeister.
    … seine gütige, großzügige Art …
    David riss sich zusammen und rief triumphierend: »So wahr ich Wendelin der Waldschlumpf bin!«
    David bekam den Job nicht. Er war nicht besonders traurig.
    Auf dem Nachhauseweg bremste er abrupt vor einem Blumenladen ab, ließ sein Fahrrad unangeschlossen draußen stehen und fragte nach Verblühtem. Für zwei Euro bekam er zahlreiche müde Margeriten, Gerbera mit glibberigen Stängeln, Rosen, die die Köpfe hängen ließen. Gladiolen gab es nicht. Aber das war nicht so wichtig. Voller Tatendrang, das Bündel Blumen unterm Arm, fuhr David weiter.
    Er hatte es eilig anzufangen. Er war doch nicht umsonst auf diese Welt gekommen, er hatte einen Plan, nach dem er antreten musste. Einen Lebensplan, in dem er die Rolle als Maler angenommen hatte. Es gab größere Zusammenhänge. Und von denen hatte Theodor nie etwas wissen wollen. Wie hatte er seine Hummerphase bezeichnet? Bildgewordene Beweise für seine Bindungsangst . Ha! Wie rasend trat David in die Pedale, er schoss durch die Straßen, schlaffe Blütenblätter schwirrten hinter ihm durch die Luft. Endlich erreichte er den Koppenplatz, wo sich sein Atelier befand.
    Schon im Hausflur hörte er die wummernden Bässe. Seine Euphorie verflog.
    Als er völlig verschwitzt und atemlos den fünften Stock erreicht hatte, zögerte er, bevor er die Ateliertür aufschloss. Dahinter schien eine Party stattzufinden. David lauschte kurz, dann rammte er den Schlüssel ins Schloss und ließ die Tür aufknallen.
    Umringt von ungefähr zehn Leuten, die David in seinem Leben noch nie gesehen hatte (und zahlreichen Weinflaschen, die er durchaus schon einmal gesehen hatte, denn schließlich hatte er sie gekauft), saß Tim auf dem Fußboden und wiegte sich im Takt der Musik vor und zurück. Die Stimmung war ausgelassen. Man rauchte Joints, man bewarf sich mit Erdnüssen und Gummibärchen. Man lachte. Tim am lautesten. Davids Anwesenheit schien niemand bemerkt zu haben.
    »Ich muss arbeiten!«, rief David, und bevor er noch etwas sagen konnte, traf ihn eine Erdnuss mitten auf die Stirn. Ein Mädchen, das ein T-Shirt mit Jim Morrisons Abbild trug, kicherte. Doch als Davids stahlblauer Blick auf sie fiel, verstummte sie sofort. Dort, wo ihn die Erdnuss getroffen hatte, spürte er einen stechenden Schmerz, heiß und vernichtend – so kam es ihm vor –, als brenne sich gerade ein Loch in seinen Kopf, und ein drittes Auge würde urplötzlich hervortreten, das ihn alles so sehen ließ, wie es war. Und er sah: sich selbst, mit seiner künstlerischen (etwas faulig riechenden) Blumen-Vision im Arm, er sah einen Haufen bekiffter, debil lachender Typen, die sich auf seine Kosten eine schöne Zeit machten. Und er sah einen todunglücklichen Theodor, der im Schatten einer Trauerweide am Lietzensee saß und weinte.
    »Raus!«, schrie David.
    »Cool, man«, erwiderte Tim und zog an seinem Joint, dass es nur so knisterte.
    »Nix cool«, kreischte David mit überkippender Stimme. »Ihr haut jetzt auf der Stelle ab, oder ich ruf die Polizei!«
    Tim blinzelte irritiert. »What is he saying?«
    Die ersten Leute standen auf und verzogen sich. »Altes Arschloch«, sagte das Jim-Morrison-Mädchen zum Abschied.
    Dann waren alle fort. Bis auf Tim.
    »Du auch«, sagte David.
    In diesem Moment rollte sich Tim grinsend auf die Seite (oder kippte er einfach um?) und schlief auf dem Fußboden ein, was David wiederum recht individualistisch und originell fand. Wie ein

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