Ein Hummer macht noch keinen Sommer
Sie?«
»Medien.«
Natalie seufzte und wies mit dem Zeigefinger auf die Tasse. »Dann viel Erfolg für die Zukunft, und hier ist zu viel Milch drauf.«
Er seufzte ebenfalls und verschwand. Die Tasse ließ er stehen.
Es gäbe noch eine weitere Möglichkeit, dachte Natalie. Sie könnte jetzt laut schreiend den Tisch umwerfen. Das würde zwar nichts bringen, aber Spaß machen. Sie könnte allerdings auch (Das Leben überschlug sich ja plötzlich vor munteren Möglichkeiten.) Theodor Silberstadts Notfallnummer wählen. Wenn sie mal wirklich nicht weiterwüsste, hatte er ihr gesagt und mit ernstem Gesichtsausdruck eine Handynummer auf ein Stück Papier geschrieben, dann würde sie ihn hier erreichen. Tag und Nacht.
Nachdenklich stieß Natalie ihren Löffel in das Milchschaumgebirge. War das jetzt ein Notfall? Das Abendessen mit Theodor Silberstadt war erst für übermorgen geplant, bis dahin konnte sie nicht mehr warten, und sie wollte dann auch nicht die Ebenen vermischen, oder wie hatte er sich ausgedrückt? Irgendwas mit Nähe und Abstand.
Meinst du vielleicht das ausgewogene Nähe-Distanz-Verhältnis, du Buttersoßenautorin? , heulte das innere Stimmchen auf, das eindeutig immer gemeiner wurde.
Natalie erstarrte vor Schreck. Der Zwerg hatte sich in ihr eingenistet und sprach zu ihr. Das war’s! Sie war wahnsinnig geworden! Einfach so. Nicht, weil sie ein Genie war, wie Virginia Woolf oder Vincent van Gogh. Sie würde sich niemals irgendeinen Körperteil abschneiden, dafür fehlte ihr wirklich die Courage. Panisch begann Natalie in ihrer Handtasche (Lisa die Listige) zu wühlen. Sie würde sich auch niemals mit Steinen im Mantel in ein tiefes Gewässer begeben. Sie wäre auch niemals in der Lage … Da! Sie hatte den Zettel gefunden und drückte ihn an ihr Herz. Lisa hatte ihn netterweise bei sich behalten. Mit zitterndem Zeigefinger tippte Natalie die Nummer in ihr Handy. »Bitte geh ran«, flüsterte sie, »bitte sei da.«
»Silberstadt!«
»Gott sei Dank!«, schrie sie, und es sprudelte nur so aus ihr heraus. Von fünf peinlichen Büchern war die Rede, die auf dem schlickigen Grund eines innerstädtischen eiszeitlichen Sees ruhten. Dann ging es um Virginia Woolf,Annegret Rüttgers und Buttersoßen. Bevor sie auf Stimmen und Zwerge zu sprechen kommen konnte, unterbrach Theodor sie freundlich: »Würden Sie sich bitte kürzer fassen?«
»Was?«
»Genau. Was ist los?«
»Wenn ich das wüsste, hätte ich nicht angerufen!«
»Versuchen Sie mal, einen Satz zu formulieren. Wie geht es Ihnen?«
»Vor einer Stunde ging es mir wunderbar, denn da hatte ich gerade die Bücher für die Live-Sendung versenkt, aber nun sitze ich hier vor einer Tasse braunem Milchschaum, lasse mich von einem pickligen Studenten schikanieren und frage mich …«
» Ein Satz, Frau Schilling. Ein Satz sollte es sein.«
»Das war ein Satz, bevor Sie mich unterbrachen«, verteidigte sich Natalie. »Ein recht langer Satz, aber nichtsdestotrotz war es nur einer.«
»Worum geht es also in diesem langen Satz?«
Sie dachte nach. Ich freue mich so sehr, Ihre Stimme zu hören, wollte sie sagen, ließ es aber sein. Haha , krächzte das Stimmchen. Bist du peinlich.
»Es gibt da einen Zwerg«, flüsterte sie, »der verfolgt mich. Ich weiß, das klingt verrückt, aber es ist so. Sie haben ihn ja neulich selbst gesehen, in der Geisterbahn. Er benutzt verschiedene Kanäle. An einem Tag ist er eine singende Kindergartengruppe, ein anderes Mal ein Buchtitel oder eine stark gezuckerte Milchspeise, aber immer geht es dabei um Zwerge.«
»Es geht also um den Begriff Zwerg?«
»Hm. Ja.«
»Was ist ein Zwerg für Sie?«
»Klein.«
»Und was noch?«
»Eine halbe Portion?«
»Weiter.«
»Verschlagen. Hässlich. Schrumpelig.«
Hey, Moment mal , gellte das innere Stimmchen beleidigt.
»Was noch?«, fragte Theodor.
»Trotz seiner Winzigkeit bedrohlich.«
»Und was noch?«
»Mehr fällt mir nicht ein.«
»Denken Sie nach.«
»Ein Zwerg trägt oft ein peinliches Zipfelmützchen?«
Gar nicht!
»Weiter.«
»Ein Zwerg schiebt meist eine lächerliche Schubkarre?«
Theodor seufzte. »Was für einen Artikel hat das Wort Zwerg?«
»Na, der Zwerg.«
»Also?«
Natalie schwieg betroffen. »Männlich«, flüsterte sie nach einer Weile. »Ein Zwerg ist männlich.«
»Richtig. In Ihrem Fall sehe ich ihn als ein männliches Zerrbild. Über all die Adjektive, die Sie eben genannt haben, sollten Sie mal in Ruhe nachdenken, wobei Sie die Zipfelmütze und
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