Ein Hund mit Charakter
gänzlich unverständlich und unbekannt. Er bewegt sich mit der Unbekümmertheit eines Urwesens in seiner kleinen Welt, die ihm Zuhause, Kontinent, Universum ist, eine Welt mit eigenem Klima, eigener Flora und Fauna: in den drei Zimmern sowie den dazugehörigen Nebenräumen, unter denen von der Küche die größten und unwiderstehlichsten Reize ausgehen, so als wäre sie der Garten Eden, ein geheimnisvolles Paradies, aus dem man ihn als Buße für irgendeine Erbsünde schon im Augenblick seiner Geburt verbannt hat. Nichts nimmt er als gegeben hin. Hemmungen plagen ihn noch nicht. Er hat die Welt zu entdecken, mit größter Sorgfalt und möglichst vom Morgen bis zum Sonnenuntergang, muß mit dem Wesen und dem Charakter aller Erscheinungen ins reine kommen. Und der Herr kann nicht anders, wundert sich mit ihm. Auch ihn drängt es ja von früh bis spät, der Natur der Erscheinungen auf den Grund zu gehen. Die Phänomene des Lichts und der Töne, der Objekte und Personen, die innerhalb dieser kleinen Welt zu ergründen sind, findet er um nichts weniger aufregend als Tschutora. Und, sagen wir es offen: Auch er begreift sie nicht. Doch während der Hund die Sache praktisch und systematisch angeht, nichts ausläßt oder geringschätzt, den winzigsten Details ebenso ungeteilte Aufmerksamkeit schenkt wie den großen, erbaulichen und bedrückenden Offenbarungen der Natur, dem Tag und der Nacht, der Wärme und Kälte, hat der Herr die Methode der praktischen Erforschung längst hinter sich, erwartet sich die Entschlüsselung der Geheimnisse längst nicht mehr von bestimmten substantiellen Eigenschaften. Er wird nicht müde, sich zusammen mit Tschutora zu erregen. Das dumpfe Schnurren der Klingel löst bei ihm die gleiche unerträgliche Erregung aus wie bei dem Hund; denn wer kann schon wissen, welche Überraschung der nächste Augenblick bringt. Aber er hat schon einen Standpunkt gegenüber der Erwartung. Tschutora wartet einstweilen nur, hegt weder Hoffnung noch Zweifel. Das Telephon reizt den Herrn genauso, doch traut er sich nicht, seinen Unmut zu äußern, wie dies Tschutora tut. So nimmt er halt den Hörer ab und knurrt mit verbissener Miene: »Natürlich, mein Bester, bitte sehr.« Die alltäglichen Mysterien der kleinen Welt begreift auch er nicht ganz; doch nagen an ihm bereits Zweifel, er erwartet keine Wunder, setzt auch auf keinerlei Mythos, zu pausenlosem Beobachten hat er keine Lust mehr, er ist müde, hat es satt. Komme, was will, grübelt er. Doch warum ist dieser Hund so neugierig? …
Bei den Zweifeln ist Tschutora noch nicht angelangt. Wenn man überlegt, daß er eigentlich ein Baby ist, noch keine vier Wochen alt, und viel zu früh entwöhnt wurde, kann man seine verblüffende Selbständigkeit, die Unerschrockenheit und den Mut, die er im Kampf ums Dasein an den Tag legt, nur staunend zur Kenntnis nehmen. Seine Welt, sein Mythos beginnt sich ja erst zu entwickeln, formt sich aus den verworrenen Elementen der ihn umgebenden eng begrenzten Welt. Die Klingel und die Türklinke, der Geruch, den Theres’ Schürze verbreitet, der Geschmack von abgeleckten Ledersesseln, eine Lampe, die mal an- und dann wieder ausgeht, der Zigarettenrauch, die quälend unbegreifliche Skala von Stimmen, die riesigen Gebilde und vor allem die Naturerscheinungen, etwa der Wasserfall in der Badewanne oder das Donnern eines Bergsturzes in der Kohlenkiste: Alle diese Erfahrungen der ersten Tage ergeben den Hundemythos. Mittendrin wird Tschutora müde und schläft ein. Da wird er bemitleidet. Die Welt und das Leben in der Welt müssen doch ein schreckliches und anstrengendes Erlebnis für ihn sein. Er ist ja noch ein Baby. Alle reden leise, keiner will ihn aus seinen Kinderträumen wecken.
»Doch warum interessiert mich dieser Mythos eigentlich so sehr?« fragt der Herr eines Abends nach dem Essen die Dame, als Tschutora bereits schlafen gegangen ist. »Ich weiß doch schon, was es mit den Dingen auf sich hat, weiß, was hinter dem Klingeln und den Telephonanrufen steckt – sicher, da wirken mysteriöse Kräfte, aber am Ende sind es doch nur Rechnungen und andere böse Absichten von irgendwelchen Menschen. Ich habe doch auch früher schon Hunde erzogen. So wie er hat mich noch keiner beschäftigt. Aber jetzt, jede Regung dieses kleinen Kerls macht mich neugierig. Als erlebte ich mit, wie sich sein Bild von der Welt entwickelt … Er läßt mich nicht zur Ruhe kommen. Die Disziplin ist beim Teufel. Ist dir aufgefallen, daß ich seit
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