Ein Hund mit Charakter
verbringt seine Tage, dreht sich minütlich eine Zigarette und raucht sie auch – um sich dann nach den vier, fünf sinnlos vertanen Stunden, die er mit Abwarten, Widerstreben und Nichtstun verbracht hat, erneut und mit bestürztem Gesichtsausdruck zum Schreibtisch zu begeben – inzwischen ist es nachmittags um sechs oder vier Uhr früh – und mit weiterer Zeitverschwendung von zwei Stunden erfolgreich eine oder bestenfalls anderthalb Seiten vollzuschreiben. Dann kleidet er sich an und stürmt davon, glücklich und gelöst, als ob er eine Kerkerstrafe verbüßt und nun für die nächsten Stunden Ausgang bekommen hätte.
Was soll an diesem Zaudern, Herumlungern, Widerstreben eigentlich »Disziplin« sein? Er selbst könnte darauf keine Antwort geben. Aber er glaubt, diese Form der Disziplin sei für ihn dennoch die einzig mögliche Art zu leben; und er ist auch dann zutiefst davon überzeugt, wenn bei all dieser Disziplin und Warterei eines so quälenden Tages nichts weiter herauskommt, als daß er morgens um vier zerreißt, was er abends um sechs mit großer Zufriedenheit beendet hat, oder wenn er am Abend gegen sechs alles, was er morgens um vier zu Papier gebracht hat, von der ersten bis zur letzten Zeile umschreibt. Dieses ganze Herumkramen und Herumlungern, Kaffeekochen, Bücherauf- und -zuschlagen, Telephonabschalten soll Disziplin sein? Ja. Sicher, er schätzt dies alles gar nicht besonders hoch ein; oft hat er das Gefühl, dieses lockere System sei nur Teil seines Kampfes gegen eine fixe Idee, und er weiß auch, daß er mit dieser Annahme nicht sehr weit von der Wahrheit entfernt ist. Manchmal ist das Resultat der vielen, bestimmt nicht vergnüglichen Stunden allein eine diffuse, unbehagliche Scham, die ihn am folgenden Tag quält, wenn er sich scheut, die Zeitungsseite aufzuschlagen, auf der er, gezeichnet mit seinem Namen, den Spuren dieser Stunden wiederbegegnen würde, oder wenn er sich nicht überwinden kann – selbst nach Jahren nicht –, in ein Buch hineinzublättern, welches das Ergebnis der »disziplinierten« Stunden von Jahren bewahrt, die angefüllt sind mit solcherart »disziplinierten« Tagen. Möglicherweise ist es die Disziplin des Irrsinns; doch er hat sich nun einmal daran gewöhnt und kann gar nicht anders. Auch alle, die mit und um ihn herum leben, haben sich, jeder auf seine Art, daran gewöhnt. Und nun kommt Tschutora und stellt diese heikle und militärisch straffe Disziplin auf den Kopf.
Nicht daß er irgendeine bevorzugte Behandlung oder besondere Zuwendung beanspruchen würde; nein, allein durch sein Dasein gerät alles durcheinander. Still oder leise quengelnd lebt er unter ihnen, und es könnte sein, daß er die Mitglieder des Haushalts, die ihn ihrerseits als eine durchaus materielle Existenz erleben, vielleicht als mythische Erscheinungen empfindet. Er inkommodiert sie, vor allem den Herrn, der meint, er müsse bei dem Störenfried einen Widerstand überwinden, bevor zwischen ihnen eine Freundschaft möglich sei. Dieser Widerstand hat nichts mit dem Charakter oder der Rasse des Hündchens zu tun; für ihn bedeutet eher die Tatsache, daß er einem Hund sein Vertrauen schenken muß, eine gewisse Demütigung. Er findet, die an Tiere vergeudete Zärtlichkeit sei auf gewisse Weise unredlich. Er ringt mit sich, findet es irgendwie unter seiner Würde, sich dem Tier zu ergeben. Für sein Empfinden liegt etwas Unbefriedigendes in einer Liebe, die der Mensch gegenüber Kreaturen an den Tag legt, welche keine Menschen sind. Bekanntermaßen verlieren vorwiegend ältere Fräulein und eingefleischte Junggesellen unter den pensionierten Beamten ihr Herz an Kanarienvögel und Hunde. Zwar akzeptiert er die Mutmaßung, daß, wer Tiere liebt, kein böser Mensch sein kann, doch hegt er zugleich den Verdacht, daß manche es einfach bequemer und billiger finden, ein Tier statt eines Menschen zu lieben. Ihm erscheint es als Ausflucht, etwa so, als versuche jemand, sein gewaltiges Liebesdefizit Menschen gegenüber mit Trinkgeld oder aus der Portokasse zu begleichen.
»Tiere lieben …«, sinnt er weiter, auch das ist nur so eine Floskel. Am Ende liegt ihm gar nichts an Tieren, normalerweise jedenfalls. Wenn er an Rinder, Kaninchen oder Hunde, an ihr Schicksal im allgemeinen denkt, so rührt ihn das nicht sonderlich. Ihm ist stets und in allem nur am Individuum gelegen, er liebt auch nicht »die Menschheit«, sondern pflegt Beziehungen ausschließlich und allenfalls mit gewissen von ihm selbst
Weitere Kostenlose Bücher