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Ein Hund mit Charakter

Ein Hund mit Charakter

Titel: Ein Hund mit Charakter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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wüßte, was sie eigentlich wollen! Der Tag vergeht so schnell, und so viel hat Tschutora zu tun: Immerfort passiert etwas, jedesmal eine Offenbarung, jeder Tag erinnert an die Erschaffung der Welt, aus dem Nichts tauchen allerlei Erscheinungen auf und verschwinden wieder, bevor er ihren Sinn begreifen kann. Tschutora leidet, ist ständig in fiebriger Erregung. Die Dame, neben deren Bett er schläft, immer noch im Papierkorb, berichtet, daß er meist schon bei Tagesanbruch erwacht, unter leisem Rascheln aus dem Zeitungspapier krabbelt, sich zum Rand des Korbes hinaufarbeitet und, mit seinen verklebten Augen zwinkernd, ohne zu quengeln darauf wartet, daß ihn jemand anredet. Anders als zum Beispiel die Vögel, die ihr eigenes Nest bekleckern, achtet Tschutora sorgsam darauf, daß der Papierkorb unbefleckt bleibt. In anderen Dingen ist er natürlich weniger penibel. So zurückhaltend er sich in der Morgenstunde gebärdet, wenn er, gestützt auf seine Vorderpfoten, in stummer Diskretion wartet, bis die Dame erwacht – was für ihn Sonnenaufgang ist –, so wenig Taktgefühl verrät er im weiteren Verlauf des Tages. Von morgens bis abends folgt ihm Theres auf dem Fuße, mit finsterer Miene, den Wischlappen und die Kehrschaufel in der Hand, betet sie ihm pausenlos eindringliche und mahnende Aufklärungsworte vor. Der Herr, der schon ein paar Hunde aufgezogen hat und weiß, daß kein Hundekind früher als mit vier Monaten stubenrein wird, hört diesen Ermahnungen mit schlechtem Gewissen zu. Wenn es sich gerade ergibt, greift auch er zu Lappen und Kehrschaufel; die Flasche Salmiakgeist steht für alle im Haus griffbereit, um die tristen Spuren von Boden und Teppichen zu tilgen – doch alle Mühe, Demut, ergebene Sorgfalt sind umsonst, denn Tschutoras Stoffwechsel funktioniert einwandfrei. »Da kann man nur auf Holz klopfen«, sagt die Dame täglich mehrmals und eilt um Schaufel, Wischlappen und Salmiak. In den folgenden Tagen sind sämtliche Mitglieder des Haushalts mit nichts anderem beschäftigt, als Tschutoras Hinterlassenschaften aufzuwischen.
    Ein gravierenderes Problem ist, daß Tschutora vorläufig ihr ganzes Denken und all ihre Zeit ausfüllt. Das Fest ist vorbei, jeder hat sich wieder in seinen Alltag zurückbegeben; da stellen sie bestürzt fest, daß der vier Wochen alte Hund die gesamte Ordnung ihres Haushalts auf den Kopf gestellt hat, pausenlos muß sich einer um ihn kümmern, ihm zu fressen geben, hinter ihm herputzen, ihn ausführen oder seinen Schlaf bewachen. »Übertrieben«, meint der Herr. Er würde gern wieder zu seinem eingefahrenen Tageslauf zurückkehren; auf Außenstehende wirkt diese seine Ordnung vielleicht disziplinlos und chaotisch, doch die Mitglieder ihres Haushalts kommen mit der seltsamen Einteilung des Tages zurecht, sie sagt ihnen zu, nur auf diese Weise können sie leben. So entspricht es eben ihrer »Hausordnung«, wenn sie mittags um zwölf das Frühstück einnehmen und nachts um vier Uhr zu Abend essen: Alles, was dazwischen liegt, ist für sie wie militärischer Drill, erscheint ihnen als minutiös geplante Stundeneinteilung, an die sie sich strikt halten. Der Nichteingeweihte versteht das natürlich nicht. Es wäre ja auch kaum begreiflich zu machen, worin die Disziplin liegt, wenn einer vier bis fünf Stunden des Tages mit ruhelosem Warten im Nichtstun verbringt: aufsteht, von einem Raum in den nächsten wandelt, sich irgendwo niederläßt, die Überschriften der Zeitung studiert, genüßlich ein Bad nimmt, zu einem Buch greift, ein paar Seiten liest, das Telephon abschaltet, die Arbeitszimmertür hinter sich verriegelt und fürchterlichen Krach schlägt, wenn ein Besuch ihn »stört«. Schwer zu begreifen, bei was man ihn stört … In der Zwischenzeit ernährt er sich, ruht sich aus, schreckt auf, eilt hektisch zum Telephon und schaltet es wieder ein, verfaßt einen Brief, steht am Fenster und starrt lange hinaus. Er blickt auf die Gasse hinunter, wo freie und sorglose Menschen flanieren, die nichts und niemand zwingt, ihre Tage in solchem Kasernendrill zu verbringen; voller Sehnsucht betrachtet er den Autobus, den Himmel, das Haus vis-à-vis, nimmt wieder am Schreibtisch Platz, schreibt noch einen Brief, den er eine halbe Stunde später wieder zerreißt, und er kocht und trinkt ständig Kaffee, für den er die Bohnen selbst mahlt – denn diesbezüglich verweigern die Mitglieder des Haushalts seit langem den Gehorsam –, weil er ja auch sonst keinem vertraut. So lebt er und

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