Ein Hund mit Charakter
gewählten Menschen. Jedes allgemeine Gefühl, jeder kategorische Enthusiasmus erfüllt ihn mit Argwohn; hat er doch die Erfahrung gemacht, daß diejenigen, die für »die Menschheit« oder für »die Tierwelt« insgesamt und bedingungslos ein großes Herz haben, oft einen Josef oder einen herrenlosen Hund, der sie anbettelt, mit einem Achselzucken verrecken lassen. Es fällt ihm dennoch schwer, den Widerstand aufzugeben; die Scham, die ihn überkommt, wenn er sich um ein Tier kümmert, wohl wissend, daß jetzt gerade hundert Millionen Menschen auf der Erde … – doch wie soll er sich mit hundert Millionen Menschen abgeben? Wie soll er sie alle lieben? Wie kann er etwas für sie tun, wenn er keinen einzigen von ihnen kennt? Vielleicht sollte man die Welt doch einfach da anpacken, wo sie einem am nächsten ist, wo man sie zu fassen bekommt? Und was für eine schockierende und deprimierende Entdeckung ist für ihn auch die Tatsache, daß Leben auf dieser Welt immer zugleich Leben gegen andere ist, vor allem wenn man anfängt, mit wachsender Hingabe für jemanden zu leben. Die Welt ist voll von rachitischen Kindern, krebskranken Greisen, unbegabten Autoren, mißverstandenen Genies, unansehnlichen Frauen und Ringern mit Leistenbruch: Ihm ist bewußt, daß seine vornehmste Aufgabe darin bestände, diesen zu helfen, möglichst allen und nachhaltig – und dann, wenn all das erledigt ist und er immer noch einen kleinen Überschuß an Gefühlen, Hingabe und Eifer hat, dann darf er diesen zum Beispiel auch an einen Hund verschwenden … Doch eine solche Lösung, die zugleich mit einer umfassenden Erlösung der Welt verbunden ist, wird, wie er befürchtet, nicht leicht zu erreichen sein. Der Herr bleibt an der Tür stehen, kratzt sich den Kopf und blickt auf den Hund hinab, der ihn kaum beachtet; er hat nämlich damit zu tun, aus dem Spalt neben dem Ofen ein Bröckchen Kohle herauszukratzen und es zu zerbeißen; denn neben anderen wichtigen Aufgaben muß er an diesem Vormittag auch noch herausfinden, was Kohle ist und wofür sie zu gebrauchen wäre …
Dem Herrn kommt es so vor, als sei aus dem Lächeln, mit dem zum Beispiel Bekannte registrieren, daß er sich jetzt einen Hund hält, eine verborgene, fast unbewußte Abschätzigkeit herauszulesen – und zwar vor allem bei denen, die permanent für eine schönere und bessere Zukunft der Menschheit in Harnisch geraten. Natürlich, scheinen sie zu sagen: das ist nun wirklich kein Kunststück! Aber es ist nicht so leicht, denkt er ärgerlich. Zuallererst dieser Widerstand, der überwunden werden muß – ewig dieses Widerstreben, bevor wir jemanden an uns heranlassen, uns zu ihm bekennen, was ja weitgehend mit einer Art Selbstaufgabe gleichzusetzen ist. Außerdem dieses kindische, absurde und nicht sehr geschmackvolle Spiel mit der subalternen Kreatur: Komm, mein Hundchen, na komm schön, dein Fressi, hm, fein. Mag er nicht? Ist doch fein! Ach herzig, diese lustigen Beinchen! Das schwarze, feuchte Näschen! Ja, natürlich, mach nur schön, muß ja auch sein. Gut! Schön fest …
Verdammt noch mal, denkt er, stürmt in sein Zimmer, zurück in die eiserne »Disziplin«, dreht den Schlüssel um und fängt an, tiefsinnig darüber zu grübeln, ein wie kompliziertes und schwieriges Unterfangen das Leben in dieser Welt doch ist.
Was aber den Herrn immer wieder anrührt, ist, daß das Bürschchen dieses Unterfangen offenbar gar nicht so kompliziert und peinlich findet. Tschutora wird auf übermenschliche Weise, ja geradezu tierisch gefordert. Mit dem Augenblick, da er von der Dame aus seinem Nachtasyl befreit wird, macht er sich voll Eifer auf zur Entdeckung der Welt, die erst beendet ist, wenn man ihn abends in den Papierkorb setzt. Pausenlos muß er wittern, schnuppern, herumscharren, Ausschau halten und sich hochrecken. Es ist ja auf niemanden Verlaß; er hat Beschaffenheit und Natur aller Erscheinungen persönlich zu ergründen. Besonderen Argwohn hegt er gegenüber Tönen und Lichtern. Aber auch verschiedene Objekte wecken sein Mißtrauen. Ständig läuft er hinter der Dame her, das Streicheln durch andere duldet er mit kühler Gelassenheit oder wehrt es ab. Er hat sich noch nicht entschieden, bisher keinen festen Standpunkt in seiner Einstellung zur Welt gefunden oder zumindest nicht zum Ausdruck gebracht, nichts Programmatisches verlauten lassen; vorgefaßte Meinungen sind ihm jedenfalls nicht vorzuwerfen. Auch verbotene Plätze kennt er nicht, überhaupt sind ihm Verbote
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