Ein Hund mit Charakter
mich deshalb.«
»Unsinn!« stellte die Dame mit einiger Strenge fest. »Tschutora frißt nicht genug und ist auch bei den Spaziergängen lustlos, das kann nur zwei Gründe haben: Entweder bedrückt ihn ein Schuldgefühl, oder er hat Würmer.«
»Würmer!« kam das Echo aus dem Mund des Herrn.
Sofort begannen sie, den Hund zu beobachten. Alle waren sie erleichtert, daß Tschutora vielleicht an Würmern litt; das klang plausibel und fachkundig, jeder bessere Hund hat gelegentlich Würmer, es ist eine der vornehmeren Hundekrankheiten, vergleichbar der Blinddarmentzündung beim Menschen. Auf das Schuldgefühl wollte der Herr gar nicht weiter eingehen, und – wir werden es später sehen – er hatte Grund dazu. Wie so oft, stellte sich auch in diesem Fall heraus, daß Frauen von den Dingen des Lebens mehr Ahnung haben und ihr Instinkt sicherer ist; denn nachdem man trotz genauer und sorgfältiger Beobachtung keine Würmer bei Tschutora entdeckt hatte, sich dafür aber seine schlechte Laune, Appetitlosigkeit und unmißverständliche Wut – vor allem gegenüber dem Herrn – noch steigerten, so daß man schon erwog, ihn aufs Land zu geben, weil Luftveränderung seinen Nerven sicher guttun würde, da fand Theres eines Morgens hinter der Badewanne den völlig zernagten alten Morgenmantel des Herrn.
Der Fund bestätigte die Theorie vom Schuldbewußtsein. Mit allergrößter Mühe und Sorgfalt hat der Hund die Umrisse von Großungarn, wie aus dem alten Schulatlas bekannt, in den Morgenmantel gefressen, und zwar mit allen Details und im richtigen Größenverhältnis. Der malträtierte Morgenrock war ein Zeugnis unersättlicher, wilder Beißwut, als Theres dem zornigen Kläffer stumm – aber in ihrer Wortlosigkeit überzeugender als jede laute Strafpredigt – das Corpus delicti vor die Nase hielt, brach Tschutora augenblicklich in ein schuldbewußtes, aber doch erleichtertes Heulen aus. Es klang, als wäre er froh darüber, daß die lange, schreckliche Zeit des Verheimlichens und Versteckens, die der Übeltat auf dem Fuß folgte, nun überstanden war, als ließe er, von der übergroßen Beweislast erschlagen, den Kopf hängen und flüstere: nun ja. Das eilfertige, eifrige Gebell, mit dem Tschutora angesichts des Corpus delicti sein Geständnis ablegte, wirkte wie die Szene in einem russischen Roman, wenn der Mörder zerknirscht bekennt: »Ja, Väterchen, ich hab’s getan, spuck mich an, hab kein Erbarmen mit mir, denn ich habe gemordet, habe deine Mutter und deinen Vater erschlagen, der Satan ist in mich gefahren, niedrige Triebe überkamen mich, spuck mich an, tritt mich mit Füßen, da ich niederträchtig und nichtswürdig bin, schone mich nicht, ich verdiene keine Gnade.« Das ist natürlich das Bequemste. Auch der Herr war erleichtert ob der Erkenntnis, daß Tschutora ihn nicht wegen irgendeines Charakterfehlers verabscheut, sondern in seinem simplen, aber zerknirschten Schuldbewußtsein seit Wochen nur als den Besitzer des Morgenmantels angekläfft hat. Und in der Tat, seither ist Tschutoras Zorn verraucht, er zeigt sich wieder nett und zutraulich, schmeichelt sich mit seinem schwerfälligen, tölpelhaften Kuvaszcharme ein, beginnt nur noch gelegentlich zu knurren, wenn er den Herrn ansieht und ihm die Übeltat wieder einfällt. Die Dame triumphiert und verbreitet den Erfolg ihrer Theorie vom Schuldbewußtsein in den entsprechenden Kreisen … Und zu ebendieser Theorie muß noch einiges gesagt werden.
Es wird für immer ein Mysterium bleiben, weshalb gerade der Morgenmantel bei Tschutora dieses unbändige Schuldgefühl ausgelöst hat. Auch ist es einigermaßen unbegreiflich, wieso die gleiche Tat von dem jungen Hund einmal als ungehörig und schuldhaft begriffen wird, er sie ein anderes Mal aber ohne jeden Skrupel begeht. Warum ihm gerade der Morgenmantel Schuldgefühle bereitet? Wo ihm doch nie jemand verboten hat, Möbel, Kissen und Bücher anzuknabbern. Verbote kennt er auch nicht; mit der Schrankenlosigkeit eines Urtiers schaltet und waltet er in der Wohnung und macht sogar, wo er will. Warum hat ausgerechnet der Morgenmantel dieses Schuldbewußtsein erzeugt? Sein Gewissen hat ihn kein bißchen geplagt, als er die Partitur von Háry János , die Sommerpumps der Dame, zwei Sofakissen im Eßzimmer und die Dusty Answer , den amüsanten Roman einer jungen britischen Autorin namens Lehmann, auseinandergenommen hat. Warum zerbeißt er hemmungslos alles und jedes, das ihm zwischen die Zähne kommt? Die Mitbewohner
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