Ein Hund mit Charakter
bestärken ihn ja noch in seinen Exzessen, seit er die Milchzähne verloren hat, denn an irgendwas muß das arme Tier sich die scharfen neuen Erwachsenenzähne ja abschleifen. Warum erschüttert ihn ausgerechnet der Umriß von Großungarn, den er so sorgfältig und wohlgeraten im Morgenmantel verewigt hat? In diesem Augenblick fängt die merkwürdige Entfremdung zwischen Herrn und Hund an, die anfangs nur von Tschutora ausgeht; und dann diese bedauerliche Wandlung in seinem Charakter, die später zu dem so tragischen und unwiderruflichen Bruch führt.
Der Herr nimmt den Hund in Schutz, er versteht ihn, weiß er doch, daß sich unser Haß in erster Linie gegen den richtet, dem wir Unrecht getan haben. Mit allen Mitteln möchte er dem Hund zu verstehen geben, daß ihm vergeben, seine Schuld vergessen ist – er kann, wenn er Lust dazu hat, ja bitte schön weiterknabbern. Tschutora tut dies auch so gut er kann; bedrucktes Papier ist seit frühester Kindheit seine Leidenschaft, gern beißt er Bücher an, vornehmlich Werke angelsächsischer Schriftsteller; und daran hindert ihn sein Herr am allerwenigsten, längst ist ihm erlaubt, ja er ist sogar ermächtigt, so viele Autoren zu zernagen, wie er mag. Auf diese Art hat Tschutora sich durch H. G. Wells hindurchgebissen, doch ließ er, zum Staunen aller, Dickens links liegen. Sicher, über Geschmack läßt sich nicht streiten. Seine ganze Leidenschaft aber sind doch die Teppiche; welche Wonne mag es ihm bereiten, wenn er unter dem Vorwand, an einem Spielzeug oder Markknochen zu nagen, in einem unbewachten Augenblick in den darunterliegenden Teppich beißt, also buchstäblich einen Fehlbiß tut – wie auch wir Menschen uns in einer schwachen Stunde gelegentlich einen Fehltritt leisten – und dann mit Unschuldsmiene vor sich hin schaut und von dannen trottet.
Dieses Knabbern wäre ja nicht so schlimm – wenn er zwischendurch nicht immer so schuldbewußt die Zähne fletschen würde! So vergehen Wochen, und langsam gebärdet er sich immer mehr wie jene unausstehlichen Menschen, die sich mit ihren Missetaten brüsten und meinen, dank ihrer zweifelhaften und auch verdächtigen Offenheit hätten sie jede Absolution verdient. Eigentlich ist Tschutora ja eine brave und unschuldige Haut, und wenn er wieder einmal grundlos zu knurren beginnt, wissen wir, daß ihn sicher sein Gewissen plagt, daß ihn nur das Bewußtsein seiner Schuld zum Geständnis und zur Selbstanklage treibt; und wir können darauf wetten, daß in ein paar Tagen hinter dem Ofen oder der Badewanne wieder ein zerfetzter Hut oder das Skelett eines Regenschirms zutage gefördert wird. Keiner käme auf die Idee, Tschutora zu beschuldigen, wenn ein Hut oder ein Werk der englischen Literatur verschwunden ist, würde er sich durch seine enervierenden, zähnefletschenden Geständnisse nicht selbst bezichtigen.
»Hör mal«, stellt ihn der Herr öfter zur Rede, »du kannst sündigen, knabbern, zerbeißen, soviel du magst, aber halt die Schnauze. Diese übertriebene Aufrichtigkeit ist nicht das Richtige, irgendwann haben die Leute sie satt. Ich habe es mit dieser Methode auch versucht. Die Menschen vertragen das nicht. Und eines Tages wird man dann hinterhältig, böse und verschlossen. Ja, leiste dir dann und wann einen Fehlbiß, aber Schnauze, behalte es für dich. Das ist zwar nicht gerade nobel, aber wenn es nun einmal nicht anders geht; das Leben ist eben keine noble Angelegenheit! Weil diese Beißerei deine Leidenschaft ist, mußt du ja nicht auch uns die Nerven strapazieren. Beiß und nage, soviel du magst, aber halt die Klappe …« Doch nein, Tschutora mit seiner russischen Seele übt sich weiter in Selbstbezichtigungen; zu den unpassendsten Zeiten hallt das Haus wider von seinen wütenden Geständnissen, und oft ist es geradezu beängstigend, wie ihn sein Gewissen nötigt, der Herrschaft, aber auch Fremden gegenüber die Zähne zu zeigen und zu kläffen. »Ach, wie unausstehlich du bist, diese Gattung der russischen Literatur geht uns unsäglich auf die Nerven!« sagt dann die Familie.
So irgendwie fängt alles immer an; jede Entfremdung nimmt auf diese Weise ihren Lauf, kleine Charakterfehler beim andern wirken störend, und dann ist man sich, ohne es zu merken, eines Tages fremd geworden und anderntags bereits spinnefeind.
»Vielleicht ist er doch krank«, meint der Herr nachdenklich, und dann beschließen sie, den gemütskranken und menschenhassenden Tschutora unter dem Vorwand, daß er geimpft werden
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