Ein Hund mit Charakter
als die Dame oder der Herr gebadet hat? »Nicht? … Überlegen Sie nur!« Dame und Herr beginnen nachzudenken, wechseln verlegene Blicke und senken dann verschämt die Köpfe. Das wäre schon möglich, entgegnet hastig der Herr, wieder anstelle der Dame, und keinesfalls auszuschließen, die Wohnung sei klein, und der Hund schleiche in den Zimmern herum, möglich, daß er gelegentlich unbemerkt auch ins Badezimmer gekommen sei, wenn einer von beiden ein Bad nahm. Doch warum sie das frage?
»Oh, eigentlich nicht so wichtig«, antwortet die Expertin liebenswürdig und mit verständnisvollem Lächeln. »Im Schlafrock also … der Kleine hat Sie im Schlafrock gesehen?« möchte sie dann ganz nebenbei noch wissen.
Im Schlafrock? … Der Herr grübelt.
»Besser gesagt in Unterhosen«, sagt er dann schuldbewußt. Um es genauer zu sagen, das Tier hatte öfter die Möglichkeit, seinen Herrn in Unterhosen zu sehen, als ganz Kleiner und auch später, morgens und abends, beim Anziehen und beim Ausziehen. Ja, ja, natürlich habe er ihn in Unterhosen gesehen. »Aber hat das etwas zu bedeuten? …«
Oh, sie hätte nur gern gewußt … Sie schweigen.
»In Unterwäsche, sagen Sie?« nimmt die Psychoanalytikerin das Gespräch wieder auf, nickt ihm ermutigend zu und fragt dann vertraulich: »Und warum betonen Sie die Unterhosen so? Sie hätten es ja auch umschreiben können. Nun, es tut nichts. Eine leicht exhibitionistische Neigung …«
Nun redet sie schon unumwundener, überzeugter. Lächelt von Zeit zu Zeit. Als Theres hereinkommt, um zu fragen, ob zum Abendessen auch Zwetschgenkompott gemacht werden soll, wechselt der Gast diskret das Thema, um anzudeuten, daß sie sich nicht in die heiklen Familienverhältnisse ihrer Gastgeber einzumischen gedenkt. Errötet und dünn kauert sie auf ihrem Stuhl, redet mit sehr leiser, bewußt tiefer Stimme, sieht sie mit durchdringender Gutmütigkeit an, stimmt ständig zu und hat etwas Ermutigendes im Ton, schließlich weiß sie ja alles – weiß sogar, warum es am Abend Zwetschgenkompott geben soll, und auch, was passieren wird, wenn nicht sämtliche Hausbewohner einschließlich Theres und Tschutora rechtzeitig zur Analyse antreten. Die leise, dunkle Stimme, die leicht vorgebeugte Haltung, das unnachahmlich gütige Lächeln, der nachsichtige Blick – das alles ist eine einzige Ermutigung. »Sprechen Sie es aus«, sagen ihre Augen, ihre Stimme, ihre Haltung, »nur nichts verdrängen, ja, sagen Sie es heraus! Zwetschgen, nicht wahr? … Eben, warum denn nicht? … Zwetschgen … Nur heraus damit … Nur weil Zwetschgen eine so besondere Form haben? … Es macht nichts, sprechen Sie es aus.«
So etwas kann bei dem, der das nicht gewohnt ist, beklemmend wirken, vor allem auch bei Tschutora. Der Herr hört sich die gütigen, von so viel Verständnis zeugenden Worte des Gastes mit nur mühsam verhohlener Ungeduld an. Es sei nicht ganz auszuschließen, äußert die Analytikerin so gönnerhaft, wie eben Experten bis zum Überdruß verbreitete Selbstverständlichkeiten ihres Faches explizieren, es sei tatsächlich nicht auszuschließen, daß Tschutora unter einem leichten Ödipuskomplex leide. Bei Hunden käme der häufiger vor, überwiegend mit Fixierung auf ihre Herren, da diese ja gleichsam als Väter fungierten, wie bei den Primitiven der Onkel; aber das sei ja allgemein bekannt und völlig selbstverständlich; und wenn der Herr den Fehler begehe – vermutlich nicht ganz ohne Grund –, sich vor dem jungen Hund allzu spärlich bekleidet zu zeigen, so entwickle sich bei dem Tier ein Ödipuskomplex. Nur symbolisch, wie sich von selbst versteht. In Anbetracht der Tatsache, daß der Ödipuskomplex am Anfang jeder menschlichen Kultur stehe, sei es ja auch nur noch eine Frage der Zeit, wann sich der Hund auf zwei Beine stelle und zu reden beginne, um sich bald darauf in analytische Behandlung zu begeben.
Das wäre sozusagen nur die eigentlich scherzhaft und beiläufig gemeinte Einleitungsbemerkung. Natürlich ist ihr die Ursache von Tschutoras nervösem und seltsamem Benehmen alles andere als mysteriös. Er wird von unerfüllten, durch seine Erziehung unterdrückten Wünschen gequält. Es ist nicht auszuschließen, daß er auch unter einem Kastrationskomplex leidet – bei dieser Diagnose strahlen ihre Augen –, weil ihm, wie so vielen Hunden, der Schwanz kupiert worden sei. Ach, ihm wurde der Schwanz gar nicht kupiert? … Schade. Fast alle Hunde haben nämlich einen Kastrationskomplex.
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