Ein Hund mit Charakter
Aber welche Wünsche sind nun eigentlich durch die Erziehung verdrängt worden? … Darauf eine schlüssige Antwort zu geben fällt ihr nicht schwer. In erster Linie sind es natürlich die Sexualtriebe. Ob die Dame und der Herr denn noch nicht beobachtet hätten, daß der Hund ständig schnüffelt und jeden Artgenossen, der ihm begegnet, sofort beriechen und beschnuppern müsse? Und auffälligerweise handele es sich meist nicht um einen freundschaftlichen Stirnkuß, wenn sich die Hunde begrüßen. Schon in frühester Jugend, etwa im Alter von zwei Wochen, würden die Tierchen vom Geschlechtstrieb geplagt; ganz klar, daß den Hund jetzt, mit acht Monaten, überhaupt nichts anderes mehr interessiere.
»Stimmt das, Tschutora?« fragt ihn der Herr dezent und vertraulich. »Soll ich dich, weil du mit deinen acht Monaten von der Rammelwut befallen bist, jetzt für vier Jahre zur Charakteranalyse geben?«
Die kundige Dame lächelt wohlwollend und fährt fort mit ihrer Belehrung. Vermutlich sei bei dem Tier auch die »libidinöse Zuwendung« verdrängt worden, also das Bedürfnis, Liebe und Zuneigung offen zum Ausdruck zu bringen. Auf die Frage, wie das zu verstehen sei, doziert sie geduldig, aber achselzuckend weiter, daß ein Hund seinen Herrn aus Liebe mit seiner Ausscheidung beglücken möchte, weil dies das einzige ist, über das er frei verfügen kann. Wenn man ihn maßregele und ihm nicht erlaube, dieses Zeichen seiner Zuneigung, diese »Spende« – wie die Seelenärztin sich auszudrücken beliebt – wo auch immer zu deponieren, etwa im Bett oder auf einem Lehnstuhl, so hinterlasse dieses mangelnde Verständnis in der Psyche des Hundes seine Spuren. Es sei aber auch nicht auszuschließen, daß die Verdrängung schon tiefer gehe und Tschutora der aus Schamhaftigkeit verdrängte »Flatus« quälte und reizte. Wenn vielleicht jemand täglich ein halbes Stündchen mit dem Tier sprechen würde, so ließe sich vielleicht … Gern wäre ja auch sie dazu bereit, wenn ihre Patienten sie nicht schon so beanspruchen würden; doch könne sie eine Dame empfehlen, die vor einiger Zeit nach gründlicher Behandlung als geheilt entlassen wurde und jetzt schon selbst mit schönem Erfolg analysiere. Sie hüstelt kurz und trocken, gönnt ihnen ihr ermutigendes Lächeln und einen Blick, der viel Verständnis verrät. Damit wäre ja alles soweit in Ordnung. Allerdings habe der Herr in letzter Zeit ein wenig an Gewicht zugelegt, was – das wolle sie auf keinen Fall unerwähnt lassen – natürlich überhaupt nichts mit Veranlagung, Vererbung, mangelhafter Drüsentätigkeit, zu üppigem Essen bei wenig Bewegung, unmäßigem Alkoholgenuß und der allgemeinen Neigung zur Trägheit zu tun, sondern eine ganz andere Ursache habe; korpulente Menschen seien unglücklich, sie wappneten sich mit ihrem Fettpanzer gegen die Welt. Zum Glück gebe es heute Möglichkeiten gegen Fettsucht, eigentlich keine große Sache, ein paar Jahre Psychoanalyse könnten in den meisten Fällen Abhilfe schaffen. Damit verabschiedet sie sich und geht.
Sie kommt und geht und läßt die Dame und den Herrn jedesmal ziemlich ratlos und verstört zurück. Was kann man da machen? Nicht viel mehr als gar nichts. Kaum ist eine gegangen, klingelt die nächste; und es sind ihrer viele. Sie alle haben sich vor einigen Jahren miserabel gefühlt, vertrauten sich dann der Psychoanalyse an und wissen heute zweifelsfrei, warum es ihnen noch immer nicht besser geht. Sie alle haben dieses gütige, verständnisvolle Lächeln parat, wenn jemand ein Wort ausspricht wie »Lerche« oder »Fels« oder »Tischbein« oder »Rührei«, denn sie wissen – und die anderen wissen es natürlich nicht! –, auch das Tischbein ist ein Sexualsymbol. Ihre leidenden Ehemänner, die sich der Analyse verweigern, treiben sie mit sanfter Ausdauer und mit der verständnisvollen und selbstlosen Opferbereitschaft von Krankenpflegerinnen ebenfalls dieser modernen Wissenschaft in die Arme. Eine erfährt es von der anderen, denn diese menschheitsbeglückende Behandlungsmethode ist ansteckend. Allesamt aber sind sie gütig, geduldig und weise; dennoch, Tschutora mag sie nicht, kann sie nicht riechen, knurrend geht er ihnen aus dem Weg, zeigt ihnen die Zähne. Und sein Herr kann ihm das nicht einmal übelnehmen, nein, insgeheim stachelt er ihn noch auf, mit seiner Meinung über die Analytikerinnen nicht hinterm Berg zu halten und seine Abneigung gegen sie keineswegs zu verdrängen.
Nach solchen Visiten stürzt
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