Ein Jahr im Frühling (Cappuccino-Romane) (German Edition)
Worte fassen können. Vielleicht
doch mit dem Spruch unserer Freundin Hilde: Sie setzte ihren Fuß in die Luft.
Und siehe, sie trug.
Emily ließ den Brief sinken. Sie hatte es geahnt. Aber nein,
das durfte jetzt nicht sein. Nicht jetzt, wo sie gar keine Kraft mehr hatte.
Sie ließ sich auf ihr Bett fallen und versank in Schwärze. Eine bergende
Dunkelheit, in der jedes Geräusch ausgeschlossen war. Vielleicht bin ich doch
ein Maulwurf, dachte sie noch, ehe es ihr endgültig den Boden unter den Füßen
wegzog.
Eine Weile später kam sie wieder zu sich und wusste erst
nicht, wo sie sich befand und was geschehen war. Dann erblickte sie den Brief
neben sich. Aus dem Briefumschlag war ein weiterer gefalteter Umschlag
herausgefallen, der in Schreibmaschinenschrift mit Für meine Freundin Emily Neumann beschriftet war. Sie
angelte ihn langsam vom Fußboden und schnupperte daran. Ihre Tränen tropften
auf das Büttenpapier. Es war ein letztes Lebenszeichen von Frieda. Wann sie den
wohl geschrieben hatte? Sie kümmerte sich auch nach ihrem Tod noch um Emily,
das war unglaublich. Emily setzte sich auf und öffnete behutsam den Umschlag.
Frieda Vogel konnte die letzten Monate nicht mehr mit der Hand schreiben. Aber
mit eiserner Willensstärke hatte sie auf einer alten elektrischen
Schreibmaschine ihre Korrespondenz fortgeführt. Manchmal benötigte sie mehrere
Stunden für eine Seite, aber sie habe ja Zeit, meinte sie.
Meine
liebe Emily.
Wir
kennen uns noch gar nicht so lange. Aber wir haben so schnell zueinander gefunden,
daß die Jahre, in denen wir uns noch nicht kannten, keine Rolle spielen. In
diesem Brief, der mein erster und letzter an Dich ist, darf ich Dich duzen. Wir
haben unserer Vertrautheit noch nicht ganz getraut, aber das tue ich jetzt.
Ich hoffe, Dir geht
es gut, wenn Du diesen Brief liest. Nein, wie unsensibel von mir, natürlich
geht es Dir nicht gut, denn Du trauerst um mich. Liebe Emily, sei nicht zu
traurig. Ich habe mich auf dieser Welt wohl gefühlt und das Gehen fällt mir
nicht schwer. Ich weiß noch nicht, wie ich das in den letzten Stunden empfinde,
aber die sind schließlich auch überstanden, wenn Du das hier liest. Bitte lass
Du mich auch gehen und sei nicht so lange betrübt. Du hast noch viel schöne
Lebenszeit vor dir, die Du aus vollem Herzen genießen darfst und sollst.
Ich möchte Dir für
die Zeit danken, die wir gemeinsam verbracht haben. Du hast mit deiner
Lebendigkeit und deinem Lebensmut meine letzten Monate bereichert wie ein
Sonnenstrahl, der ab und zu den Staub in meiner Wohnung und in meinem Gehirn
zum Tanzen gebracht hat. Es hat mir Freude bereitet, mit Dir über Gott und die
Welt zu plaudern und vor allem zu lachen. Und nicht selten habe ich mir
gewünscht, Du wärst die Tochter, die ich leider nie haben durfte.
Ich habe Dir eine
Geschichte versprochen. Doch die nehme ich nun mit ins Grab. Aber eins sollst
Du wissen. Auch ich liebte und es war nicht der Richtige. Das hat mich über
Jahre so mitgenommen, dass ich die Richtigen, die es gegeben hätte,
vorbeiziehen ließ. Bitte versprich mir eins: Sei nicht so stur und verblendet
wie ich. Es gibt nicht nur die eine Liebe. Ergreif das Geschenk, wenn es sich
Dir macht. Ich weiß nicht, ob Dein Josue der Richtige für Dich ist. Eine alte
Frau wie ich darf das einmal aussprechen. Aber ich weiß, daß der Richtige jetzt
gerade in dem Moment nach Dir sucht. Mach mir die Freude, ihn zu gegebener Zeit
auch in dein Herz zu lassen.
Ich verabschiede
mich jetzt von Dir. Wenn wir aneinander denken, bleibt unsere Verbindung
bestehen, dessen bin ich mir sicher.
Emily,
ich umarme Dich von Herzen,
Deine
Frieda Vogel
PS: Ich
habe noch eine kleine Überraschung für Dich vorbereitet. Und sag meiner
Ringeltaube einen lieben Gruß von mir.
Emily ließ den Brief sinken und die Tränen strömen. Die gute
Frieda. Jetzt versuchte sie sogar noch Emily aus der Ferne zu trösten. Ja, es
war tatsächlich Liebe auf den ersten Blick zwischen ihnen beiden. Es war so
schön, dass das auf Gegenseitigkeit beruht hatte. Aber es war viel zu kurz
gewesen. Emily war so froh, dass sie Frieda noch einmal im Krankenhaus besucht
hatte. Sie würde nachher mit Clara darüber sprechen, ob sie bei der
Vorbereitung der Trauerfeier helfen konnte. Das würde sie wirklich gerne tun.
Obwohl sie beschlossen hatte, das Bett heute nicht zu
verlassen, stand sie jetzt seltsam gestärkt auf und schlüpfte unter die Dusche.
Sie ließ das heiße Wasser alle Gedanken und
Weitere Kostenlose Bücher