Ein Jahr im Frühling (Cappuccino-Romane) (German Edition)
tun!“
Emilys heiße Tränen wurden vom kalten Fahrtwind zu
Salzspuren getrocknet. Nein, lass dir jetzt nicht auch noch ein schlechtes
Gewissen machen, schimpfte sie mit sich selbst und trat wütend in die Pedale.
Die nächsten Wochen zogen sich
in die Länge begleitet vom Glamour und dem Gedudel der Vorweihnachtszeit. Emily
stand morgens auf, sie ging zu ihren universitären Veranstaltungen, sie aß in
der Mensa, wobei sie die Hälfte ihres Essens auf dem Teller zurückließ. Sie
fühlte sich wie der tapfere Zinnsoldat, der seine Pflicht erfüllte, ob er darin
Sinn sah oder nicht. Nachmittags beugte sie sich über ihre Bücher und starrte
auf die engbedruckten Seiten, ohne ein Wort dessen zu verstehen, was sie dort
las. Sie fing an Tagebuch zu schreiben, in dem sie mit sich selbst Zwiegespräch
führte. Die eine Emily hing immer noch an der Idee einer wunderbaren Familie
mit Josue, die andere Emily sah ganz nüchtern, dass ihr romantischer Traum
geplatzt war. Sie las niemals, was sie aufgeschrieben hatte, aber das Schreiben
half ihr dennoch, ihre Gedanken zu sortieren. Abends machte sie häufig einen
ausgiebigen Spaziergang über die Schlossterrassen und den Wolfsbrunnenweg. Dann
nahm sie ein heißes Bad oder warf gleich eine Schlaftablette ein. Sie hatte
wenig Kontakt mit anderen Menschen. Manchmal
hörte sie Cellokonzerte und dachte dabei an Josue. Manchmal tanzte sie zu
Gloria Gaynors I will survive . Clara
kümmerte sich ausgesprochen liebevoll um sie und verwöhnte sie mit kleinen
Geschenken, hier ein paar Blumen, dort ein kleines Gedichtbändchen von Jean
Paul. Das tat so unendlich gut. Eines der Gedichte fand Emily besonders schön:
Findet ihr den
Trost nicht in der Nähe:
so erhebet euch
und sucht ihn immer höher;
der Paradiesvogel
flieht aus dem hohen Sturm,
der sein Gefieder
packt und überwältigt,
bloß höher hinauf, wo keiner ist.
Jean Paul war natürlich
auch in Heidelberg gewesen. Sie schmunzelte über seine Angewohnheit,
sich von allen artigen Mädchen einen Kuss zu stehlen. Üblicherweise hörte er erst beim
vierundzwanzigsten auf, in Heidelberg brach er sämtliche Rekorde. Ganze
einhundertsechsunddreißig Mädchen schien er in Folge geküsst zu haben.
Emily dachte sehnsüchtig, wann sie wohl wieder küssen würde.
Doch zurzeit brauchte sie Ruhe, um ihren Schmerz kommen und gehen zu lassen.
Sie half Clara und ihrer Großmutter, die
Hinterlassenschaften von Frieda Vogel zu ordnen und die Trauerfeier zu
organisieren. Manchmal wunderte sie sich, wieso sie nicht helfen durfte, die
Wohnung auszuräumen, aber sie würden schon ihre Gründe haben. Die Trauerfeier
selbst war schon eine nahezu fröhliche Veranstaltung. Es kamen viele Menschen,
Junge und Alte, die meisten waren ehemalige Schülerinnen und Schüler, alte
Freundinnen und Zivis. Frieda selbst hatte die Musikstücke und Lieder
festgelegt, die gespielt werden sollten. Die Predigt der Pfarrerin war
bewegend, sie hatte Frieda lange Jahre als Mitglied ihrer Kirchengemeinde
persönlich gekannt und fand richtige, gute Worte. Frieda hatte an alles
gedacht. Sie hatte schon vor zwei Jahren ein Grab wenig unterhalb der Kapelle
auf dem Handschuhsheimer Friedhof gepachtet. Dort hatte sie ein Sandsteinkreuz
aufstellen lassen, auf dem eine ebenfalls aus Sandstein gehauene Ringeltaube
saß, so dass jetzt nur noch der Name und die Daten eingraviert werden mussten.
Nachdem die Kränze und Blumen verwelkt waren, bepflanzten
Clara und Emily das Grab mit Heidekraut und weißen Christrosen.
Emily hatte es sich angewöhnt, dort jeden Mittwoch
vorbeizugehen und ein wenig mit Frieda zu plaudern. Das gab ihr das Gefühl,
dass sie nicht nur ein langes graues Band an Tagen abschreiten musste, sondern
dass es auch Ruhepunkte gab. Manchmal dachte sie dabei an David, der wenige
hundert Luftmeter entfernt in seiner Hütte saß. Sie dachte an die wundervolle
Nacht mit ihm und wie sie es jetzt gebraucht hätte, dass er sie noch einmal so
in die Arme nahm wie in jener Nacht. Aber es wäre nicht richtig gewesen.
Dennoch tröstete es sie, dass es jemanden gab, der sie vielleicht noch liebte.
Seit ihrem Telefonat hatten sie nichts mehr voneinander gehört. Emily empfand
eine gewisse Scheu, das Schweigen von ihrer Seite aus zu brechen. Sie wusste
nicht, wie sie miteinander umgehen sollten. Der alte lockere Ton passte nicht
mehr, etwas anderes war vielleicht noch nicht möglich. Ach Frieda, seufzte sie.
Manchmal sind die Menschen auch kompliziert. Es rauschte
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