Ein Jahr im Frühling (Cappuccino-Romane) (German Edition)
vor
einigen Blumentöpfen an einem Doppelgrab und schien sich wie ein
Schneekönig zu freuen, dass er sie sah.
„Hallo Emily“, rief er und war schon ganz aus dem Häuschen,
als sie noch mindestens fünf Meter entfernt war. „Wo warst du denn letzten
Dienstag in der Vorlesung?“ Wow, er hatte sie vermisst.
„Ich hatte häusliches
Chaosmanagement zu betreiben“, sagte sie etwas ausweichend, irgendetwas an
seiner Art schien ihr schon zu vertraulich, dafür dass sie sich erst ein
einziges Mal unterhalten hatten.
Er schaute sie fragend an. Sein Hals wies rote Flecken auf,
die wie Flechten an einem Stamm hochwuchsen, vermutlich immer dann, wenn er
aufgeregt war.
„Ach, nichts Wichtiges, es gab nur Ärger mit meinem
Mitbewohner.“
„Du wohnst mit jemandem zusammen?“, fragte er mit
gerunzelter Stirn.
„Ja, ich wohne in einer WG.“ Er interessierte sich definitiv
zu viel für ihre privaten Belange. „Und, wen besuchst du hier?“, fragte sie, um
das Thema zu wechseln.
„Ich pflege das Grab meiner Großeltern“, sagte er stolz,
„ich bin ihr einziger Enkel und meine Eltern wohnen ja nicht hier.“ Prof. Dr.
Theophil Mittermaier las sie und in viel kleinerer Schrift stand der Name
Sieglinde Mittermaier, geb. Maierhofer darunter. Sie wusste gar nicht, warum
sie gerade so einen starken Fluchtimpuls verspürte. Gabriel schien doch ein
ganz netter Kerl zu sein, wenn auch etwas kauzig, wie er so dastand mit seiner
alten Wollhose und den extrem langen Armen, die ein kleines Schäufelchen und
einen Blumentopf hielten.
„Ich muss weiter“, sagte sie nach einer verlegenen Pause.
„Was machst du heute noch?“, fragte er freundlich interessiert,
aber auch diese Frage behagte ihr gar nicht.
„Ach, ich habe mein letztes freies Wochenende und will mich
noch erholen. Ab nächster Woche fange ich im Seniorenheim in der Plöck an zu
arbeiten.“
Er nickte verständnisvoll. „Dann wünsche ich dir einen
wunderschönen Tag, alles Gute, Emily“, sagte er und sah sie dabei ganz intensiv
an.
„Dir auch.“ Sie schluckte und ging weiter, wobei sie seinen
Blick noch lange im Nacken spürte. War sie zu nett zu ihm gewesen? Eigentlich
hatte sie sich ihm gegenüber verhalten, wie bei allen anderen auch, die sie
hier neu kennenlernte. Aber er schien ihre Freundlichkeit aufzusaugen wie ein
Schwamm und das hinterließ ein feines Gefühl von Erschöpfung bei ihr.
Sie stieg höher hinauf, bis sie „ihre“ Bank wiederfand und
den Blick über die Ebene schweifen lassen konnte. Vor ihr befand sich noch ein
kleines Mausoleum mit bemoosten Dachziegeln. Doch, es war ein Ort ganz nach
ihrem Geschmack, an dem sie zur Ruhe kommen konnte. Nach ihrer Anfangseuphorie
waren die Tage hier so schnell vergangen, dass sie gar nicht mehr wusste, wo
ihr der Kopf stand. Sie dachte an Hamburg, an ihre Freundinnen. Ja, mit Anna
telefonierte sie etwa einmal die Woche, mit Ruth, ihrer anderen besten Freundin
aus Hamburg, hatte sie auch schon telefoniert, wobei das Gespräch etwas
stockend war. Ruth telefonierte nicht gerne, außerdem war sie immer noch ein
wenig beleidigt, weil sie es gar nicht gut fand, dass Emily die Stadt und den
Job gewechselt hatte. Vielleicht weil ihr das bewusst gemacht hatte, dass sie
auch nochmal etwas verändern könnte. Doch Ruth war Optikerin mit Leib und
Seele. Aber wer weiß, wie es tief drinnen in ihr aussah. Da Ruth sich meist um
andere Menschen kümmerte, war manchmal gar nicht so klar, wie es ihr selbst
ging.
Mit ihrer Mutter hatte sie einmal kurz telefoniert. Der
Haussegen hing immer noch schief, nachdem ihre Eltern überhaupt nicht mit ihrem
Umzug nach Heidelberg einverstanden gewesen waren und es einige lautstartke
Auseinandersetzungen gegeben hatte. Doch, es fühlte sich gut an, halb
Deutschland zwischen sich und ihren Eltern zu wissen. Dennoch wünschte sie sich
ein besseres, ein herzlicheres Verhältnis zu ihren Eltern.
Sie atmete einmal tief durch und das leichte Kribbeln der
Erregung kam zurück, als sie sich an das Orchesterfoto in der Zeitung
erinnerte. Plötzlich sprang sie auf und schlug sich an die Stirn. Sie war so
doof, so richtig doof. Es gab ja auch noch eine zusätzliche Informationsquelle,
die sie bisher schlichtweg übersehen hatte. Sie wusste doch genau, an welchem Grab
der Mann ihrer Träume gestanden hatte! Sie sah sich um, ob sie jemand
beobachtete. Dann stieg sie die zwei Gräberreihen nach unten und ging fast auf
Zehenspitzen zu dem Grab. Es war ein schlichter kleiner
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