Ein Jahr im Frühling (Cappuccino-Romane) (German Edition)
Grabstein aus hellem
Marmor. Sie fühlte sich leicht unbehaglich, als sie so in die Privatsphäre
eines anderen Menschen eindrang. In wunderschön geschwungener Schrift stand
dort Kathleen Gomez, geb. Montgomery
* 1.12.1976 † 3.9.2008.
Darunter war eingraviert „Die Liebe hört niemals auf“. Wo hatte sie das vor kurzem schon
einmal gehört? Sie ging in die Knie und hätte fast geweint. Eine Frau mit 31
Jahren gestorben. Das musste seine Frau gewesen sein. Ihr Herz floss über vor
Mitgefühl, welch ein Schicksal! Sie sah auch die rote Rose, die er vermutlich vor
einer Woche mitgebracht hatte und die schon verwelkt war, und entdeckte
zusammengerollte Zettel, auf denen kaum mehr leserlich stand für Mami . Sie waren schon
durchweicht von einigen Regengüssen. Ihr war ganz elend zumute, also hatte er
vermutlich auch noch ein Kind.
Sie stand auf, strich ihre Kleider zurecht, wie um ihre Tag-
und Nachtträume abzustreifen, und wandte sich zum Gehen. Doch da sah sie ihn.
Er kam geradewegs den Weg aus dem Wald herunter auf sie zu. Was sollte sie tun?
Er hatte sicher längst gesehen, dass sie am Grab seiner Frau stand. Er musste
an der Bank vorbei, auf der ihre Siebensachen lagen. Sie konnte jetzt nicht
einfach wegrennen. Schon war er nur noch wenige Meter entfernt. Sie kam nicht
umhin zu sehen, dass er einfach gut aussah, auch wenn er heute etwas legerer
mit einem Poloshirt und Jeans bekleidet war. Sie konnte ihn nicht anschauen, so
verlegen war sie und kratzte mit der Fußspitze im Kies zu ihren Füßen. Nun war
er da, blieb etwa zwei Meter vor ihr stehen, sie sah nur seine schwarzglänzenden
schicken Schuhe.
Sie schaute weiter auf den Boden, denn sie vermutete, sie
wäre in Ohnmacht gefallen, wenn sie ihn angesehen hätte. „Es tut mir so leid“,
stammelte sie. „Ich weiß, wie das ist, ich habe im September meinen Bruder
verloren.“ Gar nichts wusste sie, wie das war, seine Frau zu verlieren und
alleine mit einem Kind übrig zu bleiben. Das hier war die kläglichste Situation
ihres Lebens, sie wünschte sich, dass eine Erdspalte sich direkt vor ihr auftun
würde, um sie zu verschlingen, aber natürlich passierte nichts, also musste sie
wohl selbst etwas tun. Sie huschte an ihm vorbei, kletterte schnell hoch zur
Bank, warf ihre Siebensachen in Windeseile in ihre Beuteltasche und rannte so
schnell sie ihre Beine trugen den Weg nach unten. An ihrem Fahrrad angekommen
stützte sie schwer atmend die Hände in die Seiten und ließ ihren Tränen freien
Lauf.
Der Tag hatte so gut angefangen und jetzt würde sie sich am
liebsten in ein Mauseloch verkriechen. Sie legte sich angezogen, wie sie war,
ins Bett und zog die Decke über den Kopf. Es war so peinlich, ging es ihr immer
wieder durch den Kopf, so peinlich! Sie kam sich vor wie ein Teenager, der nach
langem Warten unverhofft einem Rockstar gegenübersteht und ihm dann auf die
Füße kotzt. Und dann war sie noch wenig damenhaft weggerannt. Wenn sie jemals
ernsthaft vorgehabt hatte, diesen Mann tatsächlich kennenzulernen, dann hatte
sie es heute so richtig vergeigt. Haha, vergeigt mit einem Cellospieler. Wütend
drosch sie auf ihr Kissen ein. Sie hielt es nicht mehr aus, sie musste mit
jemandem reden und die ganze verkorkste Geschichte erzählen, sonst würde sie
auf der Stelle platzen.
Sie griff zum Handy und
verzog sich wieder unter die Bettdecke. Dieses Gespräch sollte Thorsten
bestimmt nicht mitbekommen. Bitte, bitte, lieber Gott, lass Anna da sein!
„Anna“, meldete sich da schon die selbstbewusste Stimme
ihrer Freundin.
„Anna, Hilfe, hast du Zeit?“
„Klar, meine Kleine, für dich doch immer, ich schick Harry
kurz spazieren gehen.“
„Oh, ich wollte euch nicht stören, aber ich muss dringend
mit dir sprechen, mir ist da was passiert.“ Und unter Tränen und Seufzen
erzählte sie ihre Schwärmerei und die kurze Begegnung mit dem Mann ihrer
Träume.
„Emily, alles ist gut, freu dich, dass du ihn gefunden hast,
das hätte sonst noch Monate dauern können, bis du ihm auf die Spur gekommen
wärst!“
„Ja findest du es denn
nicht verrückt, dass ich mich in einen völlig Fremden vergucke, der auch noch
Witwer ist und ein Kind hat?“
„Ich finde es richtig
gut, dass du mal ein bisschen verrückt bist.“
„Aber er findet mich jetzt nach unserer Begegnung, die
eigentlich keine war, bestimmt ganz sonderbar.“
„Das Gute ist doch, dass du ihm auf diese Weise aufgefallen
sein musst. Und du hast absolut rein gar nichts getan, wofür du
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