Ein Jahr im Frühling (Cappuccino-Romane) (German Edition)
stehen geblieben, hatte ihre
ein Meter sechzig zu voller Größe aufgerichtet, womit sie ihm etwa bis zum Kinn
reichte. Dann hatte sie ganz sanft entgegnet: „Herr Peters, holen Sie sich
Ihren Kaffee doch heute und in Zukunft selbst, ich kündige.“
Nun war es an ihm gewesen vor Schreck einen Schritt
zurückzuweichen. „Aber Frau Neumann, das können Sie doch nicht machen, Sie sind
doch unsere beste Mitarbeiterin!“
„Tja, dann hätten Sie mir das vielleicht in den letzten
Monaten mal sagen sollen, statt mich immer wieder abzukanzeln und wie auf einer
Sträflingsgaleere schuften zu lassen!“
„Aber, ...“ Nun fiel ihm wohl nichts mehr ein, er war noch
nie besonders schlagfertig gewesen. Mit Genugtuung fing sie die neidischen und
teilweise auch bewundernden Blicke ihrer beiden Kolleginnen auf, nickte ihnen
zu und wandte sich zum Gehen, allerdings nicht ohne das letzte Zeichen ihrer
Verbundenheit zu beseitigen: Sie genoss es, die verhasste Brille mit dem
Fensterglas achtlos auf den Boden fallen zu lassen, war sogar draufgetreten,
allerdings eher aus Versehen, als sie würdig davonstolzieren wollte. Tja, das
war dann wohl auch ein Abschied aus der Branche gewesen. Eine Optikerin, die
eine Brille zertrat, war definitiv nicht mehr im richtigen Beruf.
Am Samstag war wieder ein Wetter zum Weltumarmen und sie
verspürte den Drang, dem Bergfriedhof erneut einen Besuch abzustatten. War es
auf dieser Bank mit Blick auf die Ebene nicht ungemein friedlich und erholsam
gewesen? Emily, mach dir nichts vor, sprach sie energisch mit ihrem
Spiegelbild, während sie sorgfältig ihre Augenbrauen zupfte. Du willst ihn
wiedersehen. Ja, und warum auch nicht, fragte sie sich. Was war denn schon
Schlimmes dabei?
Aber noch war es zu früh. Sie bereitete sich ein
ausführliches Frühstück zu, legte die Füße auf den unbesetzten Stuhl und gab
sich der genussvollen Lektüre der Heidelberger Zeitung hin. Sie liebte das
Feuilleton und die Seiten Aus aller
Welt . Ihr Blick glitt über eine Konzertbesprechung im Rahmen des
Heidelberger Frühlings. Das Heidelberger Symphonieorchester hatte Beethovens
Fünfte „spritzig“ und voller „Frühlingsenergie“ gespielt. Ihre Augen wanderten
an einen bestimmten Punkt auf dem Bild des Orchesters. Sie hielt sich die
Zeitung vor die Augen wie eine kurzsichtige ältere Dame. Konnte das wahr sein?
Da war er, ihr Azteke, unverkennbar spielte er im Heidelberger Orchester, und
zwar Cello. Seine Locken fielen etwas nach vorne, wie er so über den Cellohals
gebeugt war. Sie sprang auf, riss den Stuhl dabei um und hüpfte durch die Küche
wie ein Gummiball, während sie völlig albern „ich hab ihn, ich hab ihn“ vor
sich hinsang.
Thorsten öffnete seine Zimmertür und blieb im Türrahmen der
Küche stehen. Sie hatten sich nicht oft gesehen in letzter Zeit, Emily war viel
auf Achse gewesen, aber sein Leben schien etwas ruhiger geworden zu sein. Emily
blieb abrupt stehen, so dass ihre nackten Füße auf dem Linoleum quietschten.
„Morgen, möchtest du mitfrühstücken?“, fragte sie ihn vor
lauter Verlegenheit. Er schüttelte den Kopf, musterte sie noch einmal fragend,
war aber wohl noch zu verschlafen, als dass er Lust gehabt hätte zu reden. Dann
nahm er sich aber doch eine Tasse Kaffee und schlurfte wieder in sein Zimmer.
Würde sie jetzt trotzdem auf den Friedhof gehen? Aber sicher, es gab doch immer
viele Wege zum Ziel. Vorher würde sie sich eine Konzertkarte für das nächste
Konzert mit großer Orchesterbesetzung kaufen. Aber was wollte sie denn genau
von diesem Unbekannten und was würde sie tun, wenn sie ihn tatsächlich
wiedertraf? Emily wischte den Gedanken mit einer Handbewegung beiseite. Jetzt
wollte sie sich vor allem ihre gute Laune nicht verderben lassen.
Sie packte ihr Tagebuch und ein kleines Picknick ein, auch
„Die Bücherdiebin“, die sie gerade las, und richtete sich auf ein paar Stunden
Friedhofsidylle ein.
Auf dem Friedhof nickte sie einer älteren Dame freundlich
zu, die mühsam ihre Knie beugte, um mit einer kleinen Harke das Grab zu
pflegen, auf dem ein einzelner weiblicher Name stand. Hoffentlich nicht ihre
Tochter, dachte Emily und ging weiter. Da sah sie etwas unterhalb der
Friedhofskapelle eine größere, leicht gebeugte Gestalt, die heftig winkte. Sie
schaute sich um. Links, rechts und hinter war niemand, also war sie gemeint?
Sie näherte sich langsam und erkannte den Ex-Theologiestudenten, wie hieß er doch gleich, ach ja, Gabriel. Er stand
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