Ein Jahr im Frühling (Cappuccino-Romane) (German Edition)
dich schämen
müsstest. Du sagst doch immer, du willst ‚authentisch’ leben. Das war doch ganz
enorm authentisch heute, dass du ihm sogar noch dein Beileid ausgesprochen
hast, das hat ihn sicher berührt.“ Anna konnte das Gute an jeder Situation
sehen, deswegen hatte sie sie vermutlich auch angerufen. Emily fühlte sich
schon gleich weniger schlecht, was allerdings noch einen Kilometer entfernt von
gut war.
„Und meinst du denn, es wäre tatsächlich möglich, ihn
kennenzulernen?“ Da hatte sie nun die Falsche gefragt. Anna war der Typ, der
tatsächlich auf einen völlig Fremden zugehen konnte und ihn locker ansprach,
wenn sie sich für ihn interessierte.
„Ich finde, du solltest ihn unbedingt kennenlernen, damit du
herausfindest, ob er deine Gefühle überhaupt verdient!“
„Oh, Anna, wenn ich dich nicht hätte ...“
„… dann würdest du Ruth anrufen und sie würde dir sagen,
dass du unbedingt die Finger von einem Musiker mit Kind lassen solltest, das
wären die Schlimmsten und sie kennt bestimmt jemanden, der ganz fürchterliche
Erfahrungen mit verwitweten Musikern mit Kindern gemacht hat.“
Kichernd verabschiedeten sie sich. Emily konnte nun immerhin
ihr Gesicht und ihre Zehen wieder unter der Bettdecke hervorstrecken und merkte,
wie es innerlich in ihr zu arbeiten begann, was denn nun der nächste Schritt
sein konnte in ihrer Laufbahn als Cellistenjägerin.
Das Meer der Felsen, rosabebluste Kühe und
Wachtmeister Dimpfelmoser
Am Sonntag machte Emily sich auf den Weg in den
Wald. Immer, wenn sie etwas zu verarbeiten hatte, musste sie laufen, und zwar
lang. Sie hatte neulich gelesen, dass die Buschläufer kaum psychische Probleme
hatten, weil sie den ganzen Tag liefen und schlechte Gedanken und
Verkrampfungen sich gar nicht erst festsetzen konnten, weil sie eben ständig in
Bewegung waren. Vielleicht war das ja bei ihr so ähnlich und ihre
Psychohygiene-Methode ein archaisches Bedürfnis? Dann schien sie aber die
einzige Archaische weit und breit zu sein, sie hatte noch niemand ihres Alters
gefunden, der auch aus seelischen Gründen lief. Natürlich gab es da die Jogger,
die ihren Stress loswerden wollten, aber das wäre ja Stress mit Stress
bekämpfen und darauf hatte sie keine Lust.
Gemächlich stieg sie den Eselsweg hoch, auf dem früher die
Waren zum Schloss gebracht wurden. Sie kam am unteren Brunnenhaus im
Schlossgraben vorbei, das mit Kieselsteinen verziert war und wohl wie eine
natürliche Grotte wirken sollte. Dass man sich überhaupt gewaschen hatte im
Barock, war ja eher selten gewesen. Sieben Schichten Puder, dann einmal
abkratzen, das war wohl der Hygienezyklus. Emily war sich unschlüssig, ob sie
damals lieber zu Hofe oder als gemeine Frau auf einem Hof gelebt hätte. Beides
schien ihr nicht so richtig attraktiv zu sein. Sie stieg die Sandsteintreppe
hoch, die zum Molkenkurweg führte. Von da an hielt sie sich links, denn ihr
heutiges Erkundungsziel war das Felsenmeer. So etwas kannte sie ja nicht von
Hamburg. Sie wusste nicht einmal, was sie sich darunter vorstellen sollte. Ein
Meer aus Felsen? Sie stapfte tiefer in den Wald, freute sich über das
Vogelgezwitscher und dass hier sonst noch niemand unterwegs war. Die großen
Wegsteine, die um Heidelberg überall an den Wegkreuzungen standen und
ordnungsgemäß in Stein gemeißelt und oft sogar weiß aufgefrischt die Richtungen
anzeigten, in die sie gehen konnte, fand sie total toll. Kartenlesen war nicht
so richtig ihr Ding und so hatte sie das Gefühl, wenn sich ihr erst ein inneres
Bild der Gegend erschlossen hätte, dann könnte sie gar nicht mehr falsch
laufen. Aber noch war es nicht so weit. Für heute hatte sie sich vorgenommen,
sich immer wieder umzudrehen, um sich den Rückweg einzuprägen. Schon hatte sie
wieder so eine Schlagzeile vor Augen – „Emily ertrunken im Felsenmeer“ – und
sie sah ihre Eltern dann doch ganz bitterlich um sie weinen. So langsam war sie
zu alt für diese Marotte, alles mit Schlagzeilen, Buch- oder Filmtiteln zu
versehen, dachte sie kopfschüttelnd.
Nachdem sie eine Weile gegangen war, merkte sie, wie sie
sich leichter fühlte und ab und zu einen kleinen Hüpfer einbaute. Allerdings
dachte sie beim Höhersteigen schon, sie würde das Felsenmeer nie mehr finden.
Da sah sie rechterhand tatsächlich erste große Felsen, die im freien Fall
eingefroren am Hang liegengeblieben waren. Staunend lief sie weiter und die
Zahl der Felsen nahm zu. Kleine waren über riesige Felsbrocken
Weitere Kostenlose Bücher