Ein Jahr in Andalusien
Er macht sogar Popcorn. „Tut mir leid, dass ich dir gestern am Telefon so
eine Szene gemacht habe“, sage ich kleinlaut, als wir ins Bett gehen. „Tranquila. Es ist doch ganz normal, dass der Anfang in einer neuen Stadt nicht
leicht ist“, sagt er. Meine Mutter hatte recht, als sie sagte, dass ich in guten Händen sei. Der Anflug von Heimweh ist wie weggeblasen.
April
Mañana será otro día
„Es ist so weit“, Barbara ist ganz aufgeregt am Telefon. Sie hat die Subvention für ihr Kulturtourismusprojekt tatsächlich erhalten. Seit wir im
Januar bei ihr waren, haben wir regelmäßig telefoniert, ihr Projekt war Dauerthema. Auch ich fieberte irgendwann mit ihr der Antwort entgegen. Wenn es
nach ihr ginge, würde ich noch diese Woche mit den Interviews loslegen. Den Fragebogen hat sie mir bereits in immer wieder überarbeiteten Versionen
zugeschickt, was sie wissen will, weiß ich mittlerweile genau. Weil ich gerade Zeit habe, sage ich ihr zu, noch diese Woche loszulegen. Außerdem bin ich
sicher, dass dieser Job auch eine Fundgrube für neue Geschichten sein wird.
Ein paar Tage will ich in Benalauría bleiben, um von dort die ersten Künstler zu besuchen. „Am kommenden Wochenende veranstaltet die Künstlergruppe aus
dem Nachbarort Gaucín einen Open-Studio-Tag, da kannst du eine Menge Kontakte knüpfen. Zuerst musst du aber nach Castellar de la Frontera in Cádiz
fahren. Dort leben viele Künstler in einer wunderschönen alten Burg“, sagt Barbara, diktiert mir zwei Telefonnummern und erklärt, die anderen Künstler
in dem Dorf solle ich einfach ansprechen. Einen ganzen Nachmittag lang wähle ich die beiden Nummern. Doch erst als ich kurz vorm Aufgeben bin, erbarmt
sich einer der beiden Künstler meiner. Er heißt Ángel und ist Bildhauer. „Komm doch am Freitag so gegen zwölf, ich geb den anderen Bescheid“, sagt er,
von dem Projekt hatte ihm Barbara anscheinend schon mal erzählt. Als ich Jaime am Abend meinePläne offenbare, ruft er seinen Freund
Juan an. Die beiden vereinbaren, am Freitagabend ebenfalls nach Benalauría zu fahren, Juan will seine neue Freundin Ara mitbringen. Das klingt nach
einem vielversprechenden Wochenende.
Mit Kamera und Notizblock ausgerüstet breche ich zwei Tage später nach Castellar de la Frontera auf. Das Dorf liegt mitten im Naturpark Los
Alcornocales, in einem riesigen Korkeichenwald. Voller Vorfreude fahre ich auf der Autobahn in Richtung Algeciras. Kurz vor der Hafenstadt biege ich
nach Castellar ab. Eine Burg sehe ich in der Ortschaft allerdings nicht. Nach mehreren Runden frage ich schließlich einen Anwohner. Er erklärt mir in
breitem Andalusisch, die Burg liege weit außerhalb des Dorfs, und weist mit dem Zeigefinger gen Nordwesten. Ich danke ihm und fahre seiner vagen
Wegangabe hinterher. Tatsächlich sehe ich bald ein Schild mit der Aufschrift „Castillo de Castellar“. Mittlerweile ist es schon zwölf Uhr. Ich fahre
durch einen dichten Kork- und Steineichenwald, in dem hellrosa blühende Zistrosensträucher leuchten. In der Ferne lässt sich auf einem Hügel schon die
maurische Trutzburg erkennen. Doch die Schönheit der Landschaft kann ich nur halbherzig genießen, mein Blick wandert immer wieder zur Uhr, deren Zeiger
unaufhaltsam voranschreiten.
Es ist halb eins, als ich vor den alten Steinmauern der Burg parke. Im Eiltempo packe ich meine Sachen, laufe die Auffahrt empor, durchquere mehrere
Tore, die durch dicke Mauern führen. Nach der letzten stehe ich plötzlich vor einem Gassengewirr, atemlos bleibe ich stehen. Keine Festung versteckt
sich hinter den dicken Mauern, sondern ein richtiges Dorf. Damit habe ich nicht gerechnet, ich habe Ángel nicht einmal gefragt, wo er überhaupt lebt,
denke ich gerade mit wachsender Verzweiflung; da höre ich jemanden meinen Namen sagen. Ich wirble herum und sehe einen jungen Mann vor mir. „Ángel?“,
frage ich. „Nein, ich bin Roberto.Ángel hat mir gesagt, dass du heute kommst, um uns für Barbaras Projekt zu interviewen.“ Er macht
Anstalten, mich in einen der niedrigen Hauseingänge zu bugsieren. „Ich habe Ángel gesagt, ich bin um zwölf da, und jetzt ist es fast eins“, sage ich
schnell. „Zuerst sollte ich ihn besuchen …“ Meine Aufregung scheint nicht zu übersehen zu sein. Denn Roberto unterbricht mich: „Tranquila, aquí no hay
horario – Ganz ruhig, hier gibt es keine Uhrzeiten.“ Den Ruf als deutscher Pünktlichkeitsfanatiker will ich mir nicht anhängen lassen, also atme ich
tief durch
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