Ein Jahr in Andalusien
„In
der heutigen Zeit sollte es doch ganz normal sein, dass wir auch den Thron tragen. Wir sind stark genug und unsere Religion verbietet es uns nicht“,
sagt Inmaculada aufgebracht. Die Prozession ihrer Bruderschaft zieht am Abend des Viernes Santo, am Karfreitag, durch die Straßen der Altstadt von
Sevilla. Wir verabreden uns am Nachmittag an einer Straßenecke. Leider denken die Frauen nicht daran, eine lautstarke Protestaktion zu organisieren, das
wollen sie ihren Brüdern nicht antun. Wie jedes Jahr werden sie die Prozession vom Straßenrand aus beobachten, manchmal ihren Männern, die oft unterm
Thron gehen, etwas zu trinken geben. „Ich werdeversuchen, eine Freundin mitzubringen, die bei der Prozession ihrer Bruderschaft den
Thron tragen darf“, verspricht sie mir noch.
Am Nachmittag des Karfreitags stehe ich in einer dichten Menschentraube an der Avenida de la Constitución. Die breite Prachtstraße,
die zum offiziellen Weg der Prozessionen von Sevilla gehört, ist noch leer, nur die Bürgersteige sind bis auf den letzten Platz belegt. Die Stimmung
erinnert eher an einen Jahrmarkt als an ein religiöses Fest. Zuckerwatte und Luftballons ragen über den Köpfen der Menschen hervor, fliegende Händler
versuchen mit „Coca-Cola, Fanta, Agua!“-Rufen die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zu ziehen. Ich habe ernsthafte Bedenken, ob ich Inmaculada in
dem Chaos überhaupt finden werde. Eine Stunde habe ich noch Zeit. Die Trommler der ersten Hermandad, die heute ihre Jesus- und Marienfiguren durch die
Stadt tragen, sind bereits zu hören. Die Melodie ist eintönig, und doch entsteht eine ehrfürchtige Stimmung. Das Stimmengewirr wird leiser und alle
Augenpaare sind plötzlich auf die Straße gerichtet, wo gerade das erste Kreuz des Tages auftaucht. Hinter dem Träger des Kreuzes zieht ein endloses Heer
weiß gewandeter Büßer vorbei: die Nazarenos. Sie tragen lange Spitzhüte, die auch ihr Gesicht bedecken. Auf mich wirken sie wie Mitglieder des
Ku-Klux-Klan, ziemlich unheimlich. Die Büßer tragen die Maske und den Hut seit dem 14. Jahrhundert, so habe ich es in der Stadtbibliothek in einem Buch
über die Semana Santa gelesen. Damals hatte der Papst öffentliche Selbstzüchtigungen verboten. Weil es in Spanien jedoch dazugehörte, sich in der
Karwoche Schmerzen zuzufügen, zogen die Büßer die Haube mit dem Gesichtsschutz über, um nicht erkannt zu werden. In manchen Gemeinden geißeln sie sich
auch heute noch, bei den Umzügen in den großen Städten macht das niemand mehr. Allerdingsgehört zu jeder Prozession in Sevilla auch
ein Trupp radikaler Büßer, die Penitentes. Sie legen den kilometerlangen Weg durch die Innenstadt barfuß zurück, manche sogar auf den Knien, viele
ziehen Ketten oder Holzkreuze hinter sich her. Zwischen den beiden Büßertrupps wackelt der erste Thron mit einer Szene aus der Passionsgeschichte. Die
Träger darunter sind nicht zu erkennen, eine Decke reicht bis zum Boden; man hat den Eindruck, die Statue würde sich von alleine fortbewegen.
Unter dieser Decke wären also auch gern die Frauen um Inmaculada. Ich muss an die Worte des Pressesprechers denken, der von „unzüchtigen Berührungen
“ sprach. Beim besten Willen kann ich mir nicht vorstellen, wie die Brüder und Schwestern unter dem stickigen Teppich, wahrscheinlich auch noch völlig
verschwitzt, an Sex denken sollten.
Ich bin allein nach Sevilla gereist, Jaime hatte keine Lust auf die Semana Santa, mit der Religion hat er nicht viel am Hut, und dem Trubel während der
Feiertage entflieht er lieber. Gestern, am Gründonnerstag, ist er mit Freunden in den Naturpark Sierra de Cazorla in Jaén gefahren, die Bergwelt wollen
sie mit dem Mountainbike unsicher machen. Als ich jetzt die fanatischen Glaubensbrüder in den Straßen Sevillas sehe, wünsche ich für einen kurzen
Moment, ich wäre weit weg, in den abgeschiedenen Bergen bei Jaime. Doch ich verscheuche diesen Gedanken schnell, schließlich habe ich eine
Mission. Zielstrebig bahne ich mir den Weg zu der Straßenecke, an der ich mich mit Inmaculadas Clique verabredet habe. Natürlich bin ich zu früh. Ich
sehe auch noch den zweiten Thron mit der Marienfigur auf der Avenida vorbeiziehen. Erst als ich schon fast eine halbe Stunde an der Ecke warte, trudeln
die schnatternden Frauen ein. Sie sind gleich zu erkennen, wie eine Revoluzzergruppe sehen sie jedoch nicht aus. Vielmehr wirken die militanten
Thronträgerinnen wie Hausfrauen auf Freigang.
Ich gehe auf die
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