Ein Jahr in Australien
zeitweise ihrem Zweckentfremdete. Ich hatte sie im Postamt als Abfalleimer, im Bioladen als Türoffenhalter und in Robs Auto als Einkaufskorb gesehen. Sie waren Alleskönner. In meinem Schlafzimmer fungierten sie aufeinander und zusammengebunden als Pop-Art-Regal für T-Shirts und Handtücher. Sie hielten im sunroom , der Büro geworden war, Ordnung zwischen Zeitungen, Büchern und CDs. Und zwei Kisten-Zweiertürme ersetzten mir Tischbeine unter einem Street-Shopping-Fundstück, auf das ich besonders stolz war: einer mintgrün gestrichenen, antiken Gartentür aus Holz. Die Nachbarn hatten sie gegen ein sachliches Gittermodell ersetzt, und seither war sie auf jenen vier Kästen zum Esstisch geworden. Den zweifellos praktischsten Dienst leisteten die tapferen blauen Kerle allerdings unter meinem Futon, wo sich vier mal fünf umgedrehte Kisten zu einem erstklassigen Bettgestell formiert hatten. In denen verschwand nebenbei auch alles, was ich gerade nicht sehen wollte oder brauchte: Reisetaschen, Winterpullover, Wanderschuhe. Diese 20 Kisten hatten mich einige längere Spaziergänge, oder sagen wir Jagdausflüge, gekostet. Denn natürlich standen die „Milk Crates“ einerseits irgendwie so rum, andererseits waren sie auch meist in Gebrauch und nicht dazu gedacht, meine Matratze zu lüften.
„Diese Kiste bleibt immer Eigentum der Nahrungsmittel-Kooperative“ und „Der Besitzer verfolgt das unautorisierte Vorenthalten der Behälter“ hatte ich auf einigen frisch gefundenen Kästen gelesen, als ich sie in der Dusche abwusch. Der Hinweis war an der Seite dezent in die Streben gestanzt, Blau auf Blau. Wie sollte man das denn wohl entdecken können? Ich sagte mir, dass ich sie ja nicht ewig „vorenthalten“ wollte und bei Gelegenheit bestimmt wieder in den Milchlieferantenkreislauf integrieren würde. Bis dahin bat ich die Farmer um etwas Geduld und war ihnen für ihre Leihgabe unendlich dankbar.
Denn mit leichtem Gepäck unterwegs zu sein hatte zwarviele Vorteile, aber mit der Zeit wurden einige Mängel meiner zubehörfreien Wohnung eben doch ungemütlich. Dabei waren sowohl meine spartanische Lebensweise als auch der Möbel-Minimalismus völlig frei gewählt. Selbstverständlich konnte man auch richtig ordentlich mit Bücherkisten und Möbeln und Fernseher und Gardinenstangen nach Australien umziehen. Angesichts der Entfernung ging das logischerweise nicht per Laster vor sich, sondern per Schiff. Aber das war neben dem Preis schon der einzige Unterschied. Man packte einfach Teller und Klippan-Sofas und Mopeds und Nähmaschinen und Fotoalben und Handmixgeräte und Omas Römergläser in Container. Und ein paar Monate später war man auf der südlichen Halbkugel der Erde genauso patent ausgestattet wie vorher auf der nördlichen. Ich hatte inzwischen über zwei deutsche Australien-Auswanderer Geschichten geschrieben und noch einige andere zufällig kennen gelernt. Alles kluge Menschen, die wussten, dass auf große Entscheidungen Taten folgten. Sie wollten auswandern und machten ernst: Sie besorgten Visa, füllten Kisten, zahlten Frachtgebühren, sagten Ade, flogen um die Welt und packten dort ihre Schiffsladungen voller schöner Sachen wieder aus.
Zwischen diesen entschlossenen, klar denkenden Einwanderern und mir gab es jedoch einen Unterschied: Ich wusste nicht so genau, wie ernst es mir eigentlich war, als ich mein Flugticket kaufte. Außerdem erschien mir die Idee, einen Container mit meinem Hab und Gut zu füllen, nicht nur sehr teuer, sondern auch etwas bedrohlich. Wollte ich denn für immer weg? Nie mehr in Deutschland leben? Was ist schon für immer? Für mich waren „nie“ und „immer“ ein paar Nummern zu groß. Schon immer. Das war keine Eigenschaft, auf die ich besonders stolz war, aber ich konnte einfach noch nie sehr gut „lebensplanen“. Bislang war ich meist froh gewesen, wenn es mir gelang, halbwegs das Ende desJahres im Auge zu behalten. Wieso also sollte ich mich jetzt plötzlich mit so einem Für-alle-Ewigkeit-Wort unter Druck setzen? Zumal an einem Ende der Welt, das ich gerade erst kennen lernte?
Vielleicht würde mir Australien „für immer“ gefallen, schon möglich. Aber vielleicht gingen mir all die netten Busfahrer und das schöne blaue Meer und die ganze endlose Weite ja auch nach einer Weile so gründlich auf die Nerven, dass ich nur eines wollte: zurück an einen sicheren Ort mit Stuckdecke und Parkettfußboden und ohne Kakerlaken, zwischen Alster und Elbe, wo ich alle meine
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