Ein Jahr in Australien
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Am nächsten Tag paddelte ich mit Noel in der Gayngaru-Lagune durchs Schilf. Noel war ein weißer Tourguide und lebte schon seit über 20 Jahren hier. Er verstand einige Aborigine-Sprachen, betonte aber, dass er trotz alledem nur einen Bruchteil dieser faszinierenden Kultur begreife. Sieben Kilometer weit mäanderte der See hinter den Dünen durch die Landschaft. „Für die Yolngu“, erklärte Noel, „ist diese Lagune jener Ort, an dem die mythische Regenbogenschlange der Traumzeit ihren Weg vom Ozean ins Land suchte.“ Ihren Küstenstrich nannten sie Meer-Land – „sea country“ –, weil ihre Kultur so eng mit dem Wechselspiel zwischen Salz- und Süßwasser verbunden war. Eine seltsame Stille lag über dem See. Noel hatte die Gabe, zu spüren, wann er erklären und wann er schweigen sollte. Das Ufer säumten Papierrinden-Bäume, Seerosen dufteten süß, am Himmel kreiste ein Adler. Selbst für mich white fella wurde die „Dreamtime“-Geschichte von der Regenbogenschlange für einen Moment fast greifbar real. „Sieh alles genau an“, sagte Noel unterwegs. „Siehst du die Muster, die die Wellen im Sand hinterlassen, das Funkeln des Lichts im Wasser?“ Er zeigte mir die Spuren eines Krokodils am Strand und weit draußen in der Bucht einen Felsen, den bei Flut das Wasser überspülte. „Für die Yolngu hat all das eine besondere Bedeutung, ist Teil ihres Lebens und auch ihrer Kunst.“ Im Art Centre von Yirrkala, Arnhems renommierter Galerie für die Malerei der Ureinwohner, dämmerte mir am Nachmittag, wovon Noel gesprochen hatte. Statt schnöder Linien und Punkte in Ocker und Braun entdeckte ich plötzlich ganze Geschichten auf denkunstvoll bemalten Rinden: Ich glaubte, Bilder zu sehen, die eine seltsame Einheit mit dem Busch und Meer da draußen bildeten: Rauten und Raster waren geformt wie die Rillen der Wellen am Strand, der schwarze Pfeil war ein Fischer mit Speer, der gepunktete Korb ein Eimer voll Fels-Austern, oder nicht? Ich hielt den Atem an und staunte. Der junge Typ in weißem T-Shirt, der in dem Kunstzentrum arbeitete, grinste. Mein Eifer und meine Fragen amüsierten ihn. Dann erzählte er von sich. Er sei mit einer Yolngu-Frau verheiratet, spreche mehrere der regionalen Sprachen, lebe seit zehn Jahren als Weißer hier mit Schwarzen und studiere die Kunst der Aborigines so intensiv wie ihre Form des Zusammenlebens: „Aber wann immer ich meine, endlich etwas verstanden, einen Aspekt dieser Kultur oder einige der Gepflogenheiten annähernd begriffen zu haben, tauchen hundert neue Fragen auf.“ Ich nickte etwas beschämt, natürlich hatte er recht. Diese Bilder gehörten zu einer Kultur, die Zigtausende von Jahren alt war, der kam man in ein paar Wochen wahrscheinlich bestenfalls um Bruchteile einer Ahnung näher. Ich kam mir plötzlich winzig vor.
Meinen Rückflug nach Sydney stornierte ich. Am liebsten hätte ich noch Monate in der Nähe von Yirrkala verbracht. Ich wäre gern endlos im Schatten der hohen, lichten Papierrindenbäume am Strand sitzen geblieben und hätte dem Glitzern der Sonne im türkis funkelnden Ozean zugesehen. Manchmal hätte mich Lena vielleicht mit zum Krebsesuchen genommen. Und vielleicht hätte ich irgendwann mehr über diese seltsamen Bildergeschichten und ihre Maler verstanden. Dieser nordöstliche Zipfel des Kontinents hielt mich mit fast magnetischer Kraft fest. Plötzlich musste ich über mich grinsen: „Wohl zu viel Honig im Hirn“, fiel mir ein, wie ein Berliner Freund derlei Schwelgerei kommentiert hätte. Und natürlich musste und wollte ich zurück nach Sydney. Statt wie geplant von Darwin wollte ich jedoch erst abAlice Springs fliegen. Bis dort würde ich mit dem Überlandbus fahren. Mir war nach Nachdenken und Langsamkeit, ich hatte keine Eile. Ich wollte seitlich aus dem Fenster gucken, nicht von oben nach unten, und dabei all die neuen Eindrücke verdauen. Außerdem hoffte ich, auf der Straße eine bessere Vorstellung von den Ausmaßen dieses Kontinents zu bekommen.
Am Greyhound-Bahnhof war es staubig und heiß. Ankommende Busse hupten ein Mal, abfahrende hämmertern zwei oder drei Mal auf ihre dröhnenden Hupen. Die Fliegen hatten einen besonders anhänglichen Tag, sie klebten in meinen Augenwinkeln und krochen mir in den Nacken. Schließlich kam ein Riese von einem Kerl mit einem eigenwilligen Strohhut aus dem Büro. Er trug ein eng sitzendes Uniformhemd und Kniestrümpfe zu blauen Shorts: der Fahrer, der zugleich auch Ticketkontrolleur
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