Ein Jahr in Australien
Vielleicht würde sich ja eine der Boutiquen in Paddington meiner erbarmen. Ich hatte hier zwar noch nie auf ein Preisschild geguckt, aber ich mochte das Viertel. In einer Einheitlichkeit, die für Sydney eher ungewöhnlich war, säumten Tausende zweistöckiger Terrassenhäuser und Platanen die Gassen. Sebastians neue Freundin Liz wohnte hier, was seiner Großmutter, wie er mir vergnügt erzählt hatte, echte Sorgen bereitete. „Dort wirst du doch nicht etwa auch hinziehen, mein Junge?“, ahmte er die alte Dame nach, und zwar vorzüglich, schließlich war er Schauspieler. „In diesen Slum? Junge, nein, das tu uns nicht an!“ Kein echter Slum, aber etwas verkommen war diese innenstadtnahe Gegend zu Jugendzeiten von Sebs Großmutter wohl tatsächlich gewesen. Mittlerweile allerdings waren die einst engen, düsteren Arbeiterhäuser sorgsam restauriert, teuer aufgepeppt und das Ensemble denkmalgeschützt. Der ganze Stadtteil war ein Idyll aus schmiedeeisernen Veranden, Pfefferkuchen-Giebeln und pastellbunten Fassaden. Beinahe ein bisschen zu hübsch, um echt zu sein. Zugleich gab es in Paddingtons kleinen Straßen viele ungewöhnliche Klamottenläden, diverse gute Kneipen und noch mehr Galerien und Antiquitätenhändler. Mich erinnerte die hügelige Nachbarschaft an den Londoner Stadtteil Kensington. Allerdings nur so lange, bis ich auf dem Balkon des Royal Hotels ein Glas Wein bestellt hatte, mich unter den Heizstrahlern zurücklehnte und zur Abwechslung die Aussicht genoss: Zwischen tropischen Bäumen und verschachtelten Dächern glitzterte wie üblich ein Zipfel Pazifik in der Abendsonne. Ich nippte am Weißwein, streckte meine vom Pflastertreten müden Füße aus und ergab mich: Dies war einfach nicht der Tag für Umkleidekabinen. All die irrsinnig netten Verkäuferinnen würden sich mitsamt ihrer hübschen Jacken, Blusen und zu engen oder zu weiten Designerjeans noch etwas gedulden müssen.
In der nächsten Woche ereignete sich etwas Ungewöhnliches. Ich merkte schon beim Aufwachen, dass etwas nicht stimmte. Draußen rauschte es, die Autos auf der Straße schienen lauter als sonst, vom üblichen Vogelgeschnatter war nichts zu hören. Ich zog vom Bett aus mit dem Fuß den Vorhang ein Stück beseite und sah einen dunkelgrauen Himmel. Von Scheiben und Fensterbank tropfte es auf den Teppich. Ich rieb mir die Augen und sprang aus meinem südaustralischen Schafwollparadies: Das war kein Regen, das war eine Sintflut!
Bei der Herstellung von Australien, diese Theorie festigte sich in mir seit einiger Zeit, war alles etwas extremer ausgefallen als anderswo. Als habe jemand einen spendablen Tag in Sachen Superlative verlebt. Und die Einheimischen liebten alles, was sie als Größtes, Erstes, Weitestes deklarieren konnten, Rekorde waren das Hobby der Nation. Nicht überraschend daher, dass der Südhalbkugelkontinent Heimat der giftigsten Spinnen und tödlichsten Tiere und ekligsten Insekten war. Ausmaß und Weite und Leere waren ebenfalls überdimensional – und trotzdem oder vielleicht gerade deshalb drückte sich ein Großteil der Bevölkerung an den Rändern des Landes herum. Das längste linealgerade Stück Eisenbahn der Welt führte natürlich durch den fünften Kontinent: 478 Kilometer immer schnurstracks durch die Nullarborwüste gen Westen, und nicht eine einzige kleine Kurve. Der vermeintlich längste Zaun der Welt befand sich ebenfalls in Australien: der Dingo-Zaun, eine Barriere in Nordsüdrichtung, die Australiens wilde Hunde jenseits des Weidelandes halten sollte.
Extrem auch der viel beschworene australische Durst. Klar: Wo es heiß ist, muss man mehr Flüssigkeit aufnehmen. Zwar tranken Tschechen, Iren und Deutsche laut Statistik mehr Bier als die Australier. Darwin allerdings behauptet sichseit Jahren einsam an der Spitze: Jeder Einwohner schaffte dort 230 Liter Gerstensaft im Jahr, ein Pro-Kopf-Weltrekord. Und auch bei australischen Männern jenseits der Tropenstadt sah das Biertrinken irgendwie besonders kompromisslos aus. Vermutlich war deshalb auch die Zapfgeschwindigkeit rekordverdächtig. Ein großes Bier dauerte nach meinen Beobachtungen selten länger als sieben Sekunden. Tatsache indes war, dass Australien nicht nur die größte Insel, sondern außerdem auch der flachste Kontinent der Welt war. Und auf dem war auch das Wetter extrem: Kölner Freunden, die kürzlich am Telefon über eine „Hitzewelle“ stöhnten, riet ich, sie sollten mal ein paar Tage im westaustralischen Marble Bar
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