Ein Jahr in Australien
verbringen. Da kletterte das Thermometer häufig über hundert Tage am Stück auf 38 Grad und mehr. Kurz: Wenn es heiß war, war es wirklich heiß, wenn es stürmte, flogen unsere Mülltonnen durch die Straßen, und so etwas Gemäßigtes wie Nieselregen gehörte auch nicht ins Repertoire. Meine neue Wahlheimat war, mal abgesehen von der Antarktis, der trockenste Kontinent der Erde. Doch das Motto „wenn schon, dann bitte ordentlich“ galt auch hier. Wenn es regnete, regnete es richtig, jedenfalls in Sydney.
An meine Fenster klatschte inzwischen eine derart massive Wasserwand, dass mir unklar war, wie ich Milch und Zeitung vom Laden an der Ecke in meine Wohnung befördern würde. Ein Schirm war sinnlos, da das Wasser von allen Seiten kam. Die Wairoa Avenue sah aus wie ein Damm, an dem zwei Flüsschen entlangrauschten. Beeindruckend. Die Heftigkeit des Regens war kolossal. Für eine gebürtige Norddeutsche, die den Satz „Oh, wie schön, es regnet!“ bisher nicht oft geübt hatte, waren außerdem auch die Reaktionen der Mitmenschen ungewohnt. Alle Welt schien euphorisch. Jen kam rüber und war ganz aufgeregt: „Ah, wunderbar, hast du diesen Regen gesehen?“ Als gäbe es auch nur die geringste Chance, dieses wasserfallartige Pladdern nicht zubemerken. „Herrlich, Mensch, da kommt ja ordentlich was runter.“ Natürlich hatten wir Regen dringend gebraucht: Die Gärten waren knochentrocken, die Wiesen braun und die Pegelstände der Trinkwasserreservoirs ebenfalls auf einem besorgniserregenden Level. Ich wollte auch meiner Nachbarin auf keinen Fall den Spaß verderben. Es war nur, versuchte ich vorsichtig zu erklären, einfach noch etwas befremdlich für mich, über Regen zu jubilieren. In meinen Ohren klang dieses Wort noch zu sehr wie „schlechtes Wetter“. Es erinnerte mich an Ausdrücke wie „andauernde Schauertätigkeit“ oder „Anzug einer niederschlagsreichen Kaltfront“ – eben Zustände, die sich da, wo ich herkam, im Zweifelsfall Wochen, wenn nicht Monate hinziehen konnten. Am besten machte ich erst mal die Luken dicht und rubbelte meinen Teppichboden trocken.
Irgendwann fing das Schauspiel an, auch mich zu begeistern: In Shorts, Hemd und Gummischlappen ließ ich mich auf den 200 Metern zum Laden an der Ecke durchweichen. Egal, trocknete ja wieder, die Dusche hatte ich so schon mal gespart. Über die Bürgersteige gurgelten kleine Wasserfälle. Der schwarzblaue Himmel schien unmittelbar auf den roten Dächern zu hängen. Die Regenrinnen waren hoffnungslos überfordert. Dieses Wetter hatte etwas wahrhaft Urgewaltiges. Ein guter Tag für den Schreibtisch.
Der aus der trockensten Zone des Landes stammende Mitsubishi konnte mit den neuen Witterungsbedinungen nicht sehr viel anfangen. Jedenfalls sprang er nicht an, als ich ihn abends – es goss weniger heftig, aber immer noch ohne Unterbrechung und in großen, dicken Tropfen – motivieren wollte, mich ins Kino zu fahren. Zum ersten Mal ließ er mich im Stich. Nicht schön, aber wozu war ich zahlendes Mitglied in diesem Abschleppverein? Ich rief den NRMA an, der auch versprach, einen Kollegen zu schicken. Mit auf dem Dach rotierenden Lichtsignalen bremste der mobile Rettervor meinem Van und hupte. Ich brachte Jennys Schirm mit runter, aber der Mechaniker winkte cool ab. Er war in eine Art Ganzkörperpräservativ gehüllt und für die Flut offenbar gut gerüstet. „Hi, darl, I’m Dave, we’re stuck, hm?“. Ja, Dave, thanks, great day isn’t it, und yes, ich saß in der Tat fest. Mehr konnte ich allerdings auch nicht beitragen. Ich wusste noch nicht mal das Wort für „Anlasser“. Ehrlich gesagt war ich froh, dass es mir auf Deutsch einfiel. Nachdem er eine Weile an Sicherungen geruckelt und indiskrete Fragen nach dem Alter meiner Batterie gestellt hatte, klappte Dave die Sitzbank hoch und holte eine Art Bunsenbrenner aus seiner rollenden Werkstatt. Er stöpselte ein paar Kabel um, und dann bekam „Expressos“ Motor eine Extradosis Wüstenwind. „Wärme“, murmelte Dave, „könnte helfen. Vielleicht feucht geworden um die Zündkerzen.“ Hm, ja, nun, das wäre angesichts dieses lang ersehnten, wunderbar herrlichen Regens ja nicht wirklich überraschend. Aber innen drinnen, im Motor, unterm Sitz? Ich sah den Mann in seinem nässeabweisenden Spezialkostüm fragend an, aber der zuckte nur mit den Schultern, schaltete seinen Heizstab aus und bat mich, den Wagen anzulassen. „Start the car, please, thanks!“ Da war es: Start! Wie beschämend
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