Ein Jahr in Australien
denen es einfach nur herrlich und wundervoll war, genau hier und nirgendwo sonst zu wohnen. Wenn ich aus der stickig heißen Innenstadt zurückkam und schon auf der Bondi Road die erste Brise vom Meer auf der Haut spürte. Wenn der Mond sich beim späten Surfen im Wasser spiegelte. Wenn ich mit den Bronzies draußen auf dem Balkon des „Icebergs“ saß und ein paar Gläser Weißwein trank, während unten im Pool ein später Schwimmer seine zigste Bahn kraulte. Wenn Jen und ich kurz nach Sonnenaufgang runter zum Wasser liefen und ins Meer sprangen, lange ehe irgendein „Ortsfremder“ gewagt hatte, eine Fußspur im Sand zu hinterlassen. Wenn Cameron im Gusto zwischen Milchschäum-Marathon und Espresso-Rösten von der Maschine aufblickte und sagte: „Ah, thank God, du bist es nur. Wie immer?“ Dann fühlte sich Bondi selbst mit Sonnenöl und Massenwahn ziemlich gut an.
Ein paar Tage vor Weihnachten wurde mir trotz Sommer, Sonne und Bemühen um unsentimentale Coolness dann doch leicht mulmig. Nun, jetzt war es also so gut wie da, das Fest der Liebe, das Fest der Familie. Und ich saß am Eselsohr der Welt, schenkte meine Liebe vor allem dem Meer, und meine Familie war so weit weg wie eben möglich. „Merry Christmas!“ allerseits und zum hundertsten Mal. Und können wir es jetzt endlich hinter uns bringen? Das traditionelle australische Weihnachtsessen bestand, wie mich Jenny zwischen Schwitzen und Kofferpacken aufklärte, nicht mehr zwangsläufig aus Truthahn oder ähnlichen heißen Braten. Immerhin in diesem Punkt hatte sich die angelsächsische Tradition dem Wetter angepasst. Jen und Paul fuhren zu ihrer Mutter nach Brisbane, wo sie bei gut 35 Grad kaltenSchinken, Salate und Garnelen essen würden. „Wie die meisten anderen Aussies auch“, versicherte sie mir und warf ihr Festtagskleid, ein knallgelbes Chiffon-Top nebst Ballerinarock ähnlicher Farbe, in die Tasche. Beschenken würden sie sich gleich nach dem Aufstehen, weil ihre Schwester mit den Kindern käme, und die hielten es nie und nimmer bis nach dem Lunch aus. Die Meeresfrüchte würden sie in reichlich Bier oder Sekt schwimmen lassen. Schließlich brauchte der Körper bei der Hitze viel Flüssigkeit. Dann würden sie gemeinsam zum Strand runtergehen. Wie die meisten anderen Australier auch. „Großkampftag für die Lifesaver!“, kicherte sie und zwinkerte mir zu. Dann wurde sie ernst, zog die Stirn in Falten und nahm mich in den Arm: „Ach, so ein Mist, dass ich Mum nicht früher gefragt habe, ob du mitkommen kannst. Es ist scheußlich, dich alleine hierzulassen.“ Wir schnieften einmal kurz. Dann sagte ich in schönster australischer Take-it-easy-Manier: „No worries, wir trinken einfach jetzt einen Schluck Champagner.“ Viel anderes taten wir ohnehin seit Wochen nicht. Wobei Australier „Champagne“ jedes weinhaltige Getränk nannten, das prickelte, mit der französischen Edelvariante hatte das wenig zu tun. Die spätnachmittägliche Luft flirrte noch immer vor Hitze, schon das Eisfach des Gefrierschranks aufzumachen war wunderbar. Ich fand es natürlich auch schade, dass ausgerechnet meine Lieblingsnachbarn wegfuhren. Und eine echte Aussie-X-mas wäre sicher ein Erlebnis gewesen. Andererseits lockte mich die Vorstellung, im Holden Barina ohne Klimaanlage tausend Kilometer Richtung Norden zu fahren, wo rekordverdächtige Luftfeuchtigkeit die Hitze ergänzte, kein bisschen.
Christmas Day wurde dann trotzdem schön. Am frühen australischen Weihnachtsmorgen und somit späten deutschen Heiligabend ließ ich die Lieben in der Ferne durch den Hörer wissen, dass ich an sie denke. Sie überzeugten sich davon, dass die Papageien im Baum vor meinem Fensterbesonders festlich quietschten. Ich hörte am anderen Ende die Glocken läuten, und das klang wie ein Ritual aus einer fernen Galaxie. Schon recht. Ich nahm ein Handtuch und ging zum Strand, wo eine andere jahreszeitliche Tradition ihren unbarmherzigen Lauf nahm: die Waisen-Weihnacht. Nicht die weiße–die der Waisen, australisch:„orphans’ X-mas“. Dieses Ereignis konnte selbst der Lonely Planet nicht mehr guten Gewissens „Geheimtipp“ nennen, und es ging so: Die überwältigende Mehrheit aller Backpacker, die im Dezember irgendwo in Australien unterwegs waren, und das waren viele, trafen sich am 25. statt mit der lieben Familie in der Ferne mit ihresgleichen in der Nähe. Und zwar – genau: in Bondi Beach am Bondi Beach. Johlend und singend und in großen Gruppen und natürlich
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