Ein Jahr in Australien
versuchte, nicht wie ein Neuling auszusehen, und schmierte mir weißen Sunblocker auf die Lippen. Und endlich griffen auch sonst ein paar Klischees. Mein „Patrol Captain“, also derjenige im gut zehnköpfigen Team, der den Überblick behalten sollte und die Kommandos gab, stellte sich als Jack vor. Er war Ex-Titelmodel eines Fitnessmagazins und sah auch genauso aus. Rund um seine Schultern glänzten zahlreiche, wohlgeformte Muskeln, er war sehr braun und sein strubbeliger Schopf sonnenbleich. Abgesehen davon wirkte Jack eher schüchtern, etwas verkatert und nett. Jade, die Vizekapitänin erinnerte mich ebenfalls an eine alte Baywatch-Folge: blonde Mähne, endlose Beine, blaue Augen. Dann machte sie den Mund auf, und ich traute meinen Ohren kaum: sie sprach sehr gut englisch, und zwar mit unüberhörbar französischem Akzent. „Bonjour, ma belle“, kicherte ich amüsiert: „Surf lifesaving“, das Wahrzeichen australischer Strandkultur, war eindeutig im Begriff, von Ausländern übernommen zu werden. Zum Glück war das nicht nur meine Schuld.
Der erste schwierige Job unseres Einsatzes bestand darin, das Sonnenzelt für uns sowie die Bahre, das Sauerstoffgerät und Erste-Hilfe-Utensilien so aufzubauen, dass der Wind es nicht durch halb Bondi wehte. Nachdem wir dieses Kunststück mit vereinten Kräften, viel Gelächter und ebenso vielen Seilen vollbracht hatten, wurde es ruhig. Wir starrten aufs Meer und passten auf, dass sich niemand in die Nähe irgendwelcher Gefahr begab. Einfach genug: Es war 8.30 Uhr, eher frisch, und die Lebensretter schienen in der Überzahl zu sein. Jedenfalls trug fast jeder Zweite, der um die Zeit amStrand war, Badehosen mit dem „North Bondi“ Schriftzug des Clubs. Einen Hitzschlag würde sich auch noch kaum jemand holen, und der sommerliche Ansturm hielt sich in Grenzen. Ich griff mir eines der großen Rettungsboards, meldete mich bei Jade zur „water safety“ ab und paddelte raus aufs Meer. Wenn schon niemand gerettet werden wollte, konnte ich wenigstens was für meine Fitness tun.
Hinter der Brandungszone war der Pazifik ruhig. Nach einer Runde durch die Bucht machte ich es mir auf der Plastikplanke bequem und ließ mich von der Sonne trocknen. Ein bisschen seltsam kam ich mir mit meiner gelbroten Kappe auf dem offiziellen Rettungsgerät ja noch vor. Aber ich konnte nicht leugnen, dass ich auch eine Spur stolz war: „Lifesaver“ in Bondi Beach, schon ziemlich lässig, oder? Ein „Hey!“ aus der Ferne riss mich aus der eitlen Döserei. Ich blinzelte in die Sonne und konnte nicht viel mehr als zwei Arme erkennen, von denen einer merkwürdig gestikulierte. Adrenalin schoss durch meine Adern. Sofort tauchte das Bild des Kerls mit der Goldkette vor mir auf. Hektisch wendete ich, paddelte los und erreichte den Schwimmer sogar von der richtigen Seite. Wie im Training manövrierte ich das Brett parallel zwischen Ufer und Patient. Der grinste mich nur an und schien völlig entspannt. Außerdem trug er eine Kappe und hatte verflixte Ähnlichkeit mit meinem Patrol Captain. „Da drüben …“ Jack zeigte mit dem Arm in Richtung der „Iceberg“-Bar: „Da spielen ein paar Delphine. Ich dachte, die hättest du vielleicht nicht gesehen.“ Ich grinste erleichtert und ertappt zugleich und schüttelte den Kopf. Nein hatte ich nicht, schönen Dank, auch für die elegante Lektion. Vermutlich war es sinnvoller, die Augen „im Dienst“ offen zu halten. Für alle Fälle.
Wenn Nikolaus und Ruprecht im nordischen Winter hübsch warm eingepackt ihre Runde drehten, ergab das sicher Sinn. Aber wieso diese armen Kerle in Australien ebenfallsin langen, roten Samtmänteln und mit Kunstpelz besetzten Zipfelmützen steckten, war mir schleierhaft. Ich fand, in mehr als zweihundert Jahren Jingle Bells auf der Südhalbkugel hätte den zugereisten Weihnachtsfreunden etwas Besseres einfallen können. Etwas Eigenes. Den guten, alten Santa Claus traditionsgemäß hinter weißem Bart in langem Mantel schwitzen zu lassen erschien mir schlicht ungerecht. Weihnachten fand im Hochsommer statt. Pech, da musste man eben für die Fest-Boten Uniformen erfinden, die dem Klima angepasst waren. Doch Tradition kannte keine Gnade, und dies nicht nur in Sachen Kleiderordnung. In Küchen und Kinderzimmern wurde Schnee-Spray in Stern- und Flockenform an die Fenster gesprüht, die unvermeidlichen Lichterketten heizten blinkend die Räume noch ein paar Grade mehr auf. Durch die City hechelten konsumfördernde
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