Ein Jahr in Australien
– Pete, der neue Ladendetektiv von Coles“ stellte sie vor, prustete schon wieder vergnügt, und ließ ihrem an diesem Abend schier unerschöpflichen Redeschwall freien Lauf. Ich nickte dem Herrn zu und sah mich einem sehr klar in pazifischem Blau leuchtenden Augenpaar gegenüber. Darüber millimeterkurz geschorene Haare, darunter ein grünes Hemd und schlanke braune Arme. „Hi, nice to meet you“, sagten wir exakt zeitgleich und mussten beide lachen. Dann fiel mir auf, was ich für einen glorreichen Anblick bieten musste: Auf meinen Jeans waren ebensoviel Grasreste und Kekskrümel wie auf denen von Chris, deren weiße Bluse überdies ein Rotweinfleck zierte. Über meinen Open-Air-Dress aus Flip-Flops, Jeans und Shirt hatte ich mir wegen der eisigen Supermarkt-Klimaanlage den Sarong, beziehungsweise unsere Picknickdecke, um den Hals gewickelt. Reizend. Wir sahen völlig verwildert aus. Ich drängelte Chris zum Aufbruch, und wir schoben weiter, während sie den Einkaufswagen ihres Bekannten kommentierte: „Hast du gesehen, wie viel Gemüse und Obst in dessen Karre war? So viel Grünzeug esse ich in zwei Monaten nicht.“ Nein, hatte ich nicht gesehen. Ich hatte mich mehr auf seine seltsamen Augen und das spitzbübisch-spöttische Grinsen konzentriert. „Himmel, lass uns bloß raus hier, wir sehen vielleicht aus ...“,schob ich meine Freundin Richtung Kasse. Chris zog die Stirn in Falten. „Seit wann interessierst du dich dafür, wie du aussiehst – zumal nachts im Supermarkt?“ Ah, das sei auch wieder wahr, murmelte ich. „Aber mir ist saukalt. Hier unten ist es absolut sibirisch“, wechselte ich das Thema, und es stimmte: hätte in der Lebensmittelabteilung jemand eine Kiste Wasser umgestoßen, hätte man vermutlich kurz darauf Schlittschuh fahren können. „Woher kennst du den eigentlich?“, fragte ich möglichst beiläufig, während wir unsere Einkäufe im Kofferraum verstauten. „Kenne wen?“ Meine Freundin war mit ihren Gedanken längst anderswo. „Na den Typen ohne Haare, die Pistazien-Polizei?“ „Ach, Pete. Aus Tamarama, du weißt schon, die Ozean-Schwimmer, die ich samstags manchmal treffe. Erschreckend fit sind die, kraulen nach Bondi oder Bronte und ohne Pause wieder zurück. Aber dabei auch nett, lässig.“ Ungemein lässig, fürwahr. Der Typ war selbst im Neonlicht des auf acht Grad Celsius gekühlten Coles noch, wie Jen sagen würde, „hot“. Dabei fand ich doch Australier grundsätzlich nicht attraktiv. Eigentlich. Aber wie war das noch mit den Klischees und Vorurteilen? Genau, man musste sie regelmäßig mit der Wirklichkeit vergleichen.
Zunächst allerdings musste ich meine – oder die australische – Vorstellung von Freizügigkeit einem Realitäts-Check unterziehen. Dachte ich jedenfalls. Und auch das verdankte ich meinen Freundinnen vom Strand. Karen, Chris und ich saßen nach dem erfolgreichen Bewachen des Strandes im „Bondi Kiosk“, einem an heißen Tagen angenehm luftigen Café. Wir tauschten uns über Vereinspolitik aus, als seien wir die ältesten Club-Unken vom Dienst. Die Holzstühle im Kiosk waren mit dunkelroten Kissen gepolstert, die allerdings, als wir aufstanden, tellergroße, weiße Ränder hatten und feucht waren. Denn natürlich hatten die Mädels Shorts und T-Shirts über ihre nassen Bikinis gezogen. Nicht ausVersehen. Nein, Karen und Chris würden niemals am Strand nasse Schwimmanzüge gegen trockene tauschen. No way, never. Christines „Oh my God!“ klang peinlich berührt, als sie sah, wie ich mich meines Bikinis entledigte – wie ich fand: höchst korrekt unter dem Handtuch. „Du bist ja so europäisch!“ Das stimmte zweifellos. Für meine Freundin allerdings bedeutete „europäisch“ in diesem Fall nicht wie sonst „kulturell ganz weit vorne und irre progressiv“, sondern eher „unmoralisch und provozierend, eine Spur obszön“. Das sagte sie natürlich nicht. Stattdessen hörte ich, es sei doch „so unpraktisch“, sich in aller Öffentlichkeit umzuziehen. Praktisch hingegen war es, so lange mit salzig-nassem Bikini herumzulaufen, bis der trocknete und derweil auf Polstern, Shorts und Hemden weiße Ränder hinterließ?
„Kein Wunder eigentlich, dass ihr Probleme mit dem Umziehen am Strand habt“, zog ich die Mädels ein Wochenende später auf. Diesmal trockneten sie nicht auf Sesseln, sondern an der Sonne. „Vor gut hundert Jahren“, erinnerte ich sie an alte Tabus, „durfte man ja hier noch nicht mal bei Tageslicht ins Wasser.“
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