Ein Jahr in Lissabon
priviligiert wird man nach Hause gebracht und dabei blendend unterhalten. Erfreut der Taxista sich guter Laune, sind seine Theorien über Fußball oder Politik unschlagbar. Beuteln ihn allerdings die schlechte Laune und der schlechte Verkehr, dann hat man das Millionenlos gezogen. Denn dann erhält man Zugang zum Allerheiligsten: zum Gral der Schimpfworte.
Heute Nacht jedoch war alles anders. Heute Nacht war ich ins Taxi gestiegen und am Steuer hatte mich nicht ein bierbäuchiger Taxista in Lederjacke erwartet, der die Sportzeitung „A Bola“ zuklappte und die Zigarette aus dem Fenster warf. Sondern ein Herr von etwa achtzig Jahren – im dunkelgrauen Anzug und blütenweißen Hemd samt Krawatte. Einzig die Manschettenknöpfe fehlten. Ich war noch einmal kurz ausgestiegen, um mich mit einem Blick auf das Autodach zu vergewissern, dass ich das Taxischild nicht halluziniert hatte und versehentlich in die Karosse des Premierministers geraten war, dann ließ ich mich ins Auto zurückfallen, nannte dem Herrn meine Adresse und versuchte, meine Caipirinha-Fahne wieder einzuatmen, die sich beschämend direkt und beschämend geschmacklos über die Ledersitze legte. Der Herr hatte schweigend genickt und sich und das Taxi in Bewegung gesetzt. Mit einer Langsamkeit, die die Zeit zu untergraben schien, rollten wir Meter für Meter voran. Vielleicht blieben wir auch stehen, und die Stadt glitt nur deshalb bedächtig an uns vorbei, weil die Erde beharrlich das tat, was sie am besten kann: sich drehen. Irgendwo in den Tiefen des Handschuhfachs schellte einHandy, das seit Jahren von meinem Taxista ignoriert worden schien und deshalb heiser klang. Mich durchzuckte der Gedanke, versehentlich in ein Begräbnisauto geraten zu sein, denn es wirkte, als sei dieser Herr auf dem Weg zu seiner eigenen Beerdigung. Vielleicht war er aber auch einfach aus der Zeit gefallen und arbeitete normalerweise als Kutscher für den letzten portugiesischen König, Dom Manuel II., o Patriota oder für dessen Vater, Dom Carlo I., o Diplomata. Dann, erschöpft von so viel Spekulation, nickte ich kurz weg, und als ich wieder aufwachte, waren wir immerhin bis zum Terreiro do Paço vorgedrungen. Nun war ich sicher, in einen Film geraten zu sein. Jim Jarmusch dreht eine neue Episode für „Night on Earth“, dachte ich, und er hat sie wirklich gut imaginiert, diese einzig wahre Szenerie für eine Taxifahrt durch das nächtliche Lissabon: der Fahrer eine Ausgeburt an majestätischer Zeitlupe und schweigender Dezenz, die Pointe des Drehbuchs ist klar – der Mann schläft am eigenen Steuer ein. Als habe er meine Gedanken erraten, kam nun doch noch ein bisschen Leben in den Taxista, der vielleicht auch einmal, vor langer, langer Zeit, ein feuriger Fogeira gewesen war. Nahe dem Bahnhof Santa Apolónia schnitt ihm ein anderes Auto die Vorfahrt ab. Ganz leise, quasi unhörbar, als würde er ein Gebet mit „Amen“ beenden, englitt ihm ein „filho da puta“. Hurensohn. Nun wurde auch ich vor Aufregung wieder wach. Endlich. Ein Hoch auf Lissabons Zunft der Taxifahrer! Also weiter, vamos lá: In der Rua do Vale do São António wankte uns ein Besoffener in den Weg und ich musste alle Sensoren ausfahren, denn es glich einem Lufthauch, aber ich hörte es: „Vai-te foder – F… dich!“ Und als wir schon fast an der Haustür angekommen waren, hatte sich eine Gruppe Jugendlicher mitten auf der Rua do Washington festgequatscht, woraufhin ihm ein „Vai para o caralho!“ entfuhr –ein Ausdruck, der besser unübersetzt bleibt. Ich bezahlte ihn mit Vergnügen, diesen einzig wahren Taxifahrer von Lissabon, dieses Exemplar, das die Stadt am allerbesten repräsentiert. Und, nein, ich habe das nicht geträumt, auch wenn ich, wie schon gesagt, sehr, sehr betrunken war nach diesem wunderbaren Fest des Heiligen António.
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Der Schädel brummt mir jedenfalls noch immer, als ich jetzt, nach einigen Stunden komatösen Schlafs, bei Victor vorbeischaue. Er ist gerade damit beschäftigt, ein Geschenk zum dritten Geburtstag seiner Enkeltochter zum Paket zu schnüren. Voller Stolz zeigt er mir, was er erstanden hat: eine Puppe, die Portugiesisch sprechen kann, denn die kleine Carolina soll auch drüben in Amerika, in den schrecklichen und von Victor so verhassten Estados Unidos, Portugiesisch lernen. „Aber redet denn dein Sohn nicht Portugiesisch mit dem Kind?“, frage ich. „Sollte er“, grollt Victor, „sollte er, aber ich glaube, er tut es nicht.“ Drückt man der
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