Ein Jahr in Lissabon
Deutschland so gut funktioniere, denn ich könne mir gar nicht vorstellen, was seine Frau und er erlebt hätten. Wie viel Zeit verstrichen sei, bis es von der Diagnose zur Behandlung gekommen sei. „Wahrscheinlich war für die Ärzte bereits klar, dass sie keine Chance mehr hat – die Metastasen waren schon überall, eine Operation machte keinen Sinn mehr. Sie haben direkt zur Chemotherapie geraten, aber bis sie damit endlich angefangen haben, ist viel zu viel Zeit vergangen.“ Victors Hände graben sich in die Zucchini. „Und wie viel Eigenbeiträge wir bezahlen mussten! Jetzt, mit der Wirtschaftskrise, wird es noch schlimmer. Jeder einzelne Arztbesuch kostet, sogar wenn du nur ein Rezept abholst oder einen Verband wechseln lässt. Was glaubst du, wie viele alte Menschen mit ihren kleinen Renten es sich bald nicht mehr werden leisten können, zum Arzt zu gehen?“ Und dann hält er inne, bevor die Wut ihn wegreißt – und bekennt nach einer langen Pause, dass es eben einfacher ist, sich über das Gesundheitssystem aufzuregen, als die Trauer auszuhalten. „Weißt du, sie hätte vermutlich auch in Deutschland nicht überlebt. Der Krebs war einfach schon zu weit fortgeschritten. Sechs Monate nach der Diagnose ist sie gestorben, die Geburt ihres Enkelkindes hat sie nicht mehr erlebt. Und dabei habe ich immer gedacht, dass ich derjenige sein würde, der zuerst gehen wird.“
Das Gemüse liegt nun fein geordnet, es hat genauso stumm und traurig zugehört wie ich. Victor muss den Laden wieder aufschließen, weil die Mittagspause vorbei ist. Und ich bringe das Paket mit der Puppe, die Portugiesisch sprechen kann, zur Post.
Julho
J EDER M ETER AN F ORTBEWEGUNG WIRD ZUR H ERAUSFORDERUNG . Das Licht gleißt, die Luft flirrt, die Stadt kocht. Ich warte darauf, dass der Asphalt ebenso zerfließt wie ich, und erinnere mich daran, was mir eine italienische Erasmus-Studentin in den ersten Wochen meines Aufenthaltes neidvoll verraten hatte: „Ob du es glaubst oder nicht: Die Portugiesinnen schwitzen nicht.“ In der Tat, sie schwitzen nicht, denn sie haben freundlicherweise all ihren Schweiß mir überlassen. Immerhin tröstet es, dass unser neuer schwedischer Praktikant ein Handtuch über den Schultern trägt, um sich regelmäßig das Gesicht trocken wischen zu können – auch wenn er sich dafür den Spott von Tiago einfangen muss: „Ich weiß gar nicht, was du hast! Für mich ist alles kalt, was sich unter 35 Grad abspielt.“
Ausnahmezustand also heißt der Juli in Lissabon. Die Konversation, die ich im Winter über die Kälte erlebt habe, kehrt sich nun einfach um. „Uuuuh, que calor!“, stöhnt man beim Schwätzchen auf der Straße, welche Hitze! Wer nun Urlaub hat, verlässt die Stadt, wobei die Portugiesen selten außer Landes reisen, maximal bis Spanien fahren, sondern sich lieber in Portugal erholen. Sich an der Westküste auf einem Campingplatz einrichten oder in die Berge fahren, in die Serra da Estrela beispielsweise, wo es im Winter schneit und deshalb auch im Sommer nicht so brütend heiß wird. Und wer gar nicht wegkommt, hat wenigstens die Möglichkeit, sonntags an die Praia da Caparica zu fahren, an den Hausstrand der Lissaboner, der vor Menschen überquillt.
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Auch ich bekomme eine Woche Urlaub und fahre mit Tiago Richtung Algarve, um seine Großmutter zu besuchen, die in der Nähe der spanischen Grenze lebt. Wir nehmen den Autocarro Richtung Süden, rollen durch den Alentejo, das wunderschöne Gebiet „jenseits des Tejo“, mit seinen sanften Hügeln und den Plantagen aus Korkeichen, zu denen sich jetzt im Sommer Sonnenblumen gesellen, steigen in Faro um, fahren bis Tavira weiter und von dort aus wieder ein Stückchen nördlich ins Land hinein.
Am Abend, die Sonne geht schon unter, kommen wir in dem kleinen Dörfchen an, in dem sich Fuchs und Hase „a raposa e o coelho“, gute Nacht sagen. Tiagos Großmutter, eine kleine, agile siebzigjährige Dame mit weißem Haar, die sich mir als Fernanda vorstellt und mich gleich zum Duzen auffordert, lebt alleine – der Mann ist vor ein paar Jahren verstorben – in einem alten Steinhäuschen. „Hat mein Großvater selbst gebaut“, erzählt mir Tiago. „Schau dir die Wände an: unten ganz dick und nach oben hin verjüngend. Das ist stabil.“ Und das dämmt, denn trotz der Hitze ist es angenehm kühl im Haus. Hinter dem Haus gackern ein paar Hühner und eine Gans. Dazwischen rüsselt ein Schwein in der trockenen Erde. Idylle, wohin das Auge
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