Ein Jahr in London
neu entfacht – Angst geht um in unseren Parks!!“ Ich lese schaudernd weiter. Diesen neuen Rauschgiftterror, so die Times, hätten wir einem neuen zoologischen Phänomen zu verdanken: und zwar dem des Crack-Eichhörnchens. Drogendealer, so der Artikel, vergrüben oft kleine Stücke von Crack in Parks und Vorgärten, wo sie von gewitzten Eichhörnchen auf der Futtersuche aufgespürt und verzehrt würden. Und eine Sucht bleibe natürlich bei den zierlichen Tierchen auch nicht aus. Ein Anwohner des im Süden Londons liegenden Stadtteils Brixton hatte eins von den Crackhörnchen mit eigenen Augen beobachtet: „Man sah ihm an, dass es genau wusste, wonach es suchte. Es sah krank aus und seine Augen waren blutunterlaufen, aber es grub trotzdem weiter, ganz offensichtlich verzweifelt auf der Suche nach mehr Crack.“ Ich betrachte das Eichhörnchen, das es offensichtlich auf mein Frühstück abgesehen hat, mit noch größerer Skepsis. Ein Eichhörnchen unter Drogeneinfluss kann vielleicht gewalttätig werden.
Als ich von meiner Zeitung aufschaue, sehe ich allerdings etwas, was mich für den Rest des Tages noch mehr verstört: Einwenig den Hügel abwärts bleibt ein Pärchen am Wegrand stehen, breitet ein großes Badetuch aus und setzt sich dann darauf. Sie: lange, schwarze Locken, Beine so dünn wie mein kleiner Finger und braungebrannt, als käme sie gerade aus einem Karibikurlaub wieder. Und er? Mein Herz bleibt stehen. Das kann doch nicht wahr sein. Niemand anderes als Jake!
Ich beobachte die beiden einige Minuten, sehe, wie er ihr liebevoll den Rücken eincremt, sie gemeinsam ein Magazin lesen und sich dabei amüsieren, und dann habe ich genug. Was für eine Erniedrigung! Wenn er mich jetzt erblickt und ignoriert. Oder herüberkommt und so tut, als sei nichts geschehen. Ich muss unbemerkt verschwinden.
In dem Moment schaut die Frau mich durch ihre gigantische Sonnenbrille hindurch an, sagt dann etwas zu Jake und sie schauen beide herüber. Ich lege mich flach auf den Rücken, schließe die Augen und hoffe, dass er mich nicht erkannt hat.
Zehn Minuten später greife ich meine Tasche, springe auf und gehe so schnell wie möglich Richtung Parkausgang. Ich werde meine Kollegin Maddie besuchen und dort warten, bis die Anstreicher fertig sind. Als ich mich noch einmal vorsichtig umdrehe, sind die beiden wieder tief in ihr Magazin vertieft. Ich kann ungesehen entkommen.
November
Mein Akzent im Englischen nähert sich mittlerweile der Perfektion. Anstatt des Tie-Äitsch benutze ich wie alle echten Londoner ein „f“, also „I fink“ anstatt von „I think“ , was sowieso einfacher ist, und „fru“ anstelle von „through“ , das „h“ am Wortanfang lasse ich einfach weg, und das obligatorische „isn’t it?“ am Satzende kürze ich in ein schneidiges „innit?“ ab.
Und trotzdem sind die Schüler nicht zufrieden.
„Seit wann wohnen Sie noch mal in England?“
„Seit vier Monaten.“
„Und Sie haben immer noch so einen schlimmen Akzent? Unglaublich.“
Dank meines für sie unaussprechlichen Nachnamens habe ich dann auch bald einen Spitznamen: „Miss Terminator“ .
Meistens bin ich aber sowieso einfach nur „Miss“ – „Miss, ich habe keinen Stift“, „Miss, ich muss unbedingt aufs Klo“. Die Kinder fragen mich nach der Übersetzung und ich komme ins Stocken.
„Fräulein, Tim hat mir gerade eine runtergehauen, darf ich ihn zurückschlagen?“ hört sich genauso komisch an wie „Frau, Sie haben da ein bisschen Salat zwischen den Zähnen kleben“.
Im Englischen gibt es für das weibliche Geschlecht drei Anreden zur Auswahl: Miss , also Fräulein, nicht verheiratet; Mrs , gleich Frau, verheiratet; oder Ms , ein Zwischending, das allerlei bedeuten kann: eine Mrs , die das Extra-„r“ zu bieder findet, eine Miss , deren feministische Einstellung sie zur Ablehnung des verniedlichenden Ausdruckes bewegt, oder ich, die sich mit dreißig einfach ein bisschen zu alt vorkommt, noch Fräulein genannt zu werden. Als Lehrerin aber ist man in England eine „Miss“, ob man es mag oder nicht, und das giltgenauso für die 23-jährige Referendarin wie auch für die 62-jährige Fachschaftsleiterin und zweimalige Großmutter.
Trotzdem, finde ich, kann ich den Kindern nicht einfach beibringen, mich als „Fräulein“ anzureden, denn sie sollen doch schließlich lernen, sich in Deutschland zu verständigen, und da käme das „Fräulein“ nun bei den wenigsten erwachsenen Frauen gut an.
Also werde
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