Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Ein Jahr in London

Titel: Ein Jahr in London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Regeniter
Vom Netzwerk:
schulterzuckend an, als wolle sie sich für den schlechten Geschmack ihrer Mutter entschuldigen.
    Das Kochen des Weihnachtsessens für den kommenden Tag fängt schon am Heiligabend mit dem Stopfen des Truthahnesan. Der ist so groß, dass Eileens Kopf fast gänzlich im Innern des Vogels verschwindet, während sie ihn mit einer Mischung aus Zwiebeln, zerhackten Würstchen und Salbei auffüllt.
    „Ach, da habe ich dieses Jahr doch wirklich ein tolles Exemplar ausgesucht“, klingt ihre Stimme dumpf aus dem Inneren des Vogels hervor.
    Dann taucht sie wieder auf und zu dritt versuchen wir, den Vogel in den Kühlschrank zu befördern, der allerdings schon hoffnungslos mit anderen Speisen für den morgigen Tag überfüllt ist. Unzählige Schalen mit verschiedenen Soßen stapeln sich neben Würstchen, Speck, den verschiedensten Gemüsen und dem obligatorischen Christmaspudding, der zum englischen Weihnachtsfest einfach dazugehört.
    „Tja, was machen wir denn nun?“
    Elli ist sichtlich genervt. „Mum, jedes Jahr ist es dasselbe – du kaufst einen viel zu großen Truthahn, an dem wir dann wochenlang essen müssen, bis es einem echt zum Hals raushängt.“
    „Ach, du kannst gut reden, wenn es nach dir ginge, gäbe es selbst Weihnachten Fish und Chips. Oder Bohnen und Chips und was auch immer du gerade noch im Schrank findest.“
    Bevor das Wortgefecht in einem völligen Familienzerwürfnis endet, schlage ich vor, einige der 2-Kilo-Tüten Blumenkohl aus dem Kühlschrank zu räumen, und irgendwann lässt sich das Untier von Vogel dann tatsächlich so zwischen die vielen Behälter und Schalen quetschen, dass wir die Tür mit Mühe und Not schließen können.
    Elli und ich fallen erschöpft auf die Küchenstühle.
    „Ach, jetzt hab ich doch glatt das Guinness vergessen, das ich extra für Dave gekauft habe.“
    Natürlich stellt sich heraus, dass die kleine Guinness-Flasche sich direkt hinter dem Turkey befindet, was für Eileen jedoch kein Grund ist, von ihrem Vorhaben abzulassen. Also muss der Vogel wieder herausgehievt werden und die Arbeit geht von vorne los.
    Eine Stunde später finden wir uns alle völlig erschöpft im Pub um die Ecke wieder, wo sich ganz Manchester zu Heiligabend versammelt zu haben scheint. Heiligabend ist in England ein Tag wie jeder andere, aber die Aussicht, die nächsten zwei Tage ohne Pause mit Verwandten verbringen zu müssen, um die man das Jahr über einen großen Bogen gemacht hat, ist für viele Grund genug, sich ordentlich zu betrinken.
    Die letzten Sitzplätze sind bereits Stunden zuvor vergeben worden, und bei unserer Ankunft ist es schon schwierig, noch einen Stehplatz zu bekommen.
    „Sich bis an die Bar vorzuarbeiten und ein Getränk zu bestellen, ist schwieriger als während der Rush Hour in die U-Bahn reinzukommen“, bemerkt Rachel.
    Der Pub ist wohl die einzige Institution in England, wo das sonst mit größter Hingabe praktizierte Schlangestehen nicht beachtet wird, wenn auch die Barleute mit für mich unerklärlicher Treffsicherheit doch immer genau wissen, wer an der Reihe ist.
    Eileen besteht darauf, die erste Runde zu bezahlen, und schafft das Unmögliche: Innerhalb von Minuten hat sie sich unter den Armen und Biergläsern der anderen durchgeschoben und reicht dem Barmann schon das Geld.
    „Wir sind Regulars hier. Das hier ist unser Local , wo Dad früher jeden Abend ein Bier getrunken hat, also werden wir mit Vorrang bedient“, erklärt Elli.
    Ich bin sehr froh darüber, denn ohne dieses Privileg müssten wir sicherlich noch eine Stunde länger auf unser Bier warten.
    Außer mit dem Schlangestehen bricht der Pub auch noch mit einer anderen englischen Verhaltensregel: Er ist der einzige Ort, wo man mit Fremden ins Gespräch kommen kann, ohne sofort für verrückt befunden zu werden. Und so mache ich auf dem Weg zur Toilette gleich drei neue Bekanntschaften: mit einer älteren Frau, die mir Fotos von ihren Enkelkindern zeigte, mit Susan aus Schottland, deren Hund mit in den Pubgekommen war und jetzt in Gefahr schwebt, aus Versehen zertrampelt zu werden, und einem Amerikaner, der mir von der Geschichte Manchesters vorschwärmt: „Sind sie nicht toll, die alten Fabrikgebäude hier? Hier hat es alles angefangen, hier im Nordwesten Englands: Industrielle Revolution, Kapitalismus, Popmusik, alles. Eines Tages wird diese Stadt als genauso wichtig angesehen werden wie Athen oder Rom.“
    Ein bisschen übertrieben finde ich seine Begeisterung schon, aber in der allgemein heiteren

Weitere Kostenlose Bücher