Ein Jahr in London
irgendetwas anderem, was den Hustenreiz stoppen könnte, finde aber nur einen Lutscher, den ich mir also, auf ein bisschen Erleichterung hoffend, in den Mund stecke, und lutsche verzweifelt darauf herum. Ein paar der netten Kinder gucken mich mitleidsvoll an, die anderen ignorieren mich einfach und schreien weiter.
Bis es dann plötzlich von einem Moment zum nächsten mucksmäuschenstill wird und sämtliche Schüler innerhalb von Sekunden brav auf ihren Plätzen sitzen und zur Tür schauen. Ich folge ihren Blicken, und bemerke Dr Clarkson, den Schulleiter, der mit verschränkten Armen und bösem Blick in der Tür steht. Plötzlich brüllt er so laut los, dass selbst ich vor Schreck zusammenfahre:
„Was geht denn hier vor? Das ist ja unglaublich, was hier mitten während des Unterrichts los ist. Danny, aufstehen!“
Danny springt in die Höhe und schaut Dr Clarkson verängstigt an.
„Krawatte geraderücken!“
„Yes, Sir!“
Der Junge zieht so schnell wie möglich seine blaue Krawatte mit dem Schulemblem ein bisschen in die Länge.
„Bist du immer so eine lahme Ente? Deine armen Eltern! Ricky!“ Der nächste Schüler steht zögernd auf.
„Hemd in die Hose stecken!“ Ricky folgt schnell dem Befehl, und ich überlege, ob die englische Vorliebe für Trainingsanzüge diesem strikten, schon fast militärischen Uniformzwang in der Schulzeit entspringt. Wer sich zwangsweise viele Jahre sogeschniegelt kleiden muss, möchte es in der Freizeit vielleicht locker angehen.
Dann wendet sich der Schulleiter an die ganze Klasse.
„Ihr werdet alle heute nach Schulschluss eine halbe Stunde nachsitzen, und wer dagegen was einzuwenden hat, kann gleich eine ganze Stunde bleiben.“
Dann wendet er sich an mich, fängt zu reden an und stockt dann plötzlich. Mit Grauen wird mir klar, dass er meinen Mund, beziehungsweise den Lutscher in meinem Mund, anstarrt. Ich nehme ihn schnell raus und verstecke ihn hinter dem Rücken.
„Ist hier alles unter Kontrolle, Miss?“
„Ja“, sage ich kleinlaut mit krächzender Stimme und würde am liebsten im Boden versinken.
„Ich würde gerne mal morgen mit Ihnen sprechen. Bitte kommen Sie in der Mittagspause in mein Büro.“ Dann verschwindet er genauso plötzlich, wie er gekommen ist.
Den ganzen restlichen Tag graut mir vor dem Treffen, doch das Glück, beziehungsweise das Wetter, ist auf meiner Seite.
Am Abend fängt es nämlich ein wenig an zu schneien, zum ersten Mal seit meinem Umzug nach London, und die ganze Stadt ist in eine dünne Schicht Puderschnee getaucht. Da es im Süden Englands so selten richtig kalt wird, ist Schnee, selbst in für deutsche Verhältnisse nicht als erwähnenswert angesehenen Mengen, Grund zur Panik. Nur die wenigsten Autofahrer besorgen sich Winterreifen, gestreut wird nur selten und dann nur auf Autobahnen und viele Stunden nach dem Schneefall.
Wenn dann also mal ein paar Flocken fallen, geht gar nichts mehr. Von meinem Fenster aus sehe ich zu, wie ein Auto nach dem anderen von der Bahn abkommt und auf den Bürgersteig zuschlittert. Bald kommt der Verkehr völlig zum Erliegen.
Am nächsten Morgen stehe ich ganz besonders früh auf, denn ich habe beschlossen, das Auto lieber zu Hause zu lassen und stattdessen mit der U-Bahn zu fahren, denn schließlich habe auch ich keine Winterreifen.
Die Fahrbahn ist wieder einigermaßen frei, nicht so aber die Gehwege, denn es gibt hier keine Regelung, nach der die Hausbewohner für das Schneeschippen vor ihrem Haus verantwortlich sind.
„Wofür zahlen wir denn Steuern?“, beschwert sich die Nachbarin, als ich sie dazu befrage. „Für die Straße ist der Staat verantwortlich, nicht ich.“
Als ich zum zweiten Mal an diesem Morgen ausrutsche und auf dem Hintern lande, sehne ich mich fast nach der deutschen Ordnungswut.
Endlich komme ich an der U-Bahn-Station an, nur um zu sehen, dass diese mit einem Gitter zugesperrt ist. Ich schiele hindurch und sehe ein Schild mit der Aufschrift: „No trains today, due to the wrong kind of snow!“ – Keine Züge heute wegen des falschen Schnees. Ich frage mich, wie wohl die richtige Art von Schnee auszusehen hat.
Ich schlittere also wieder nach Hause, und steige dann doch in mein Auto.
Das Fahren selber geht überraschend gut, und so bin ich umso erstaunter, als mir vor dem geschlossenen Schultor die Sekretärin zuwinkt.
„Wir haben geschlossen! Keine Schule heute!“
Ich fahre etwas näher heran und öffne das Fenster.
„Wie bitte?“
„Die Gehwege
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