Ein Jahr in London
ihrer zwölften Klasse Korrektur zu lesen, weil ihr Deutsch doch nicht gut genug sei, um das grammatische Geschlecht aller Wörter zu kennen. Mir bleibt nicht viel übrig: Ich werde kündigen, meine Niederlage eingestehen und zurück nach Deutschland gehen. Die erste Träne kann ich mir unbemerkt mit der Rückseite meines Ärmels wegwischen, doch mein Missmut steht mir ins Gesicht geschrieben.
„Ich weiß, die 10A ist eine große Herausforderung, aber wir erwarten noch großartige Sachen von dir. Du wirst das alles mit Bravour meistern, dessen bin ich mir sicher.“ Bei diesen netten Worten kommen mir die Tränen erst recht und ich entschuldige mich schnell und verlasse das Büro.
Als ich in der Mittagspause Maddie treffe, habe ich mich schon wieder ein bisschen beruhigt und erzähle ihr erbost von den Ereignissen.
„Ich habe dich ja gleich vor Miss Miller gewarnt, haven’t I ? Sie würde alles tun, um sich ein einfaches Leben zu machen, auch auf Kosten der anderen.“
„Ich glaube, ich werde kündigen.“
„Ach was, halt es wenigstens noch bis zum Sommer aus, dann wirst du über die Sommerferien bezahlt, und dann kannst du immer noch weitersehen.“
Als mir Miss Miller einige Stunden später auf dem Weg zum Kopierer über den Weg läuft, weiß ich bereits, dass ich Ostern gehen werde.
„Hallo Anna“, grinst sie mir zuckersüß zu.
„Ich finde das ja nicht gut, dass ich jetzt deine zehnte Klasse übernehmen muss“, rücke ich sofort mit der Wahrheit heraus.
Sie grinst einfach weiter vor sich hin und tut so, als hätte sie nichts gehört.
Ich wiederhole meinen Satz, diesmal dreimal so laut.
Wieder keine Reaktion.
„ Sorry , hast du was gesagt?“, sagt sie dann schließlich eisig.
„Es ist eine Gemeinheit, dass man mir die Abiturklasse einfach wegnimmt und dafür die schlimme 10A gibt.“ Wenn das nicht laut genug für sie war, muss sie ihren Hörsinn völlig verloren haben.
Sie schaut stur auf den Kopierer, nimmt ihre Blätter heraus und kehrt mir dann den Rücken zu. Vor der Tür dreht sie sich noch einmal um.
„Manche Sachen muss man einfach akzeptieren, wie sie sind“, sagt sie vieldeutig und schließt dann schnell die Tür hinter sich.
Am nächsten Morgen im Lehrerzimmer verhält sie sich, als sei nichts passiert.
„How are you?“ , spricht sie mich wie immer lächelnd an. „Ich mag deinen Rock! Wirklich schön, wo hast du den gekauft?“
Ich versuche es selbst mit ihrer Ignorierungs-Strategie, tue so, als hätte ich sie nicht gehört, doch halte das eisige Schweigen nur ein paar Sekunden durch.
„Topshop“, antworte ich stattdessen und lächele sogar zurück.
„Steht dir wirklich gut.“ Sie zwinkert mir zu, als wären wir beste Freundinnen, und erzählt mir dann ausführlich von ihrem kommenden Ski-Urlaub in Japan.
Am Nachmittag übergibt sie mir alle Unterlagen ihrer zehnten Klasse, inklusive der Klassenliste. Ich überfliege schnell die Namen – obwohl ich keines der Kinder persönlich kenne, sind mir alle aus Schreckensgeschichten meiner Kollegen bekannt. Kyle Hammond, berühmt dafür, dass er Mrs Powys, der Englischlehrerin, heimlich von hinten die Haare abzuschneiden versucht hat, Natasha Leeming, die letzte Woche dabei erwischt wurde, wie sie mitten in der Mathestunde eine Ecstasy-Tablette schluckte, und Natalie Greenhalgh, deren Spezialität es ist, sich im Unterricht die Haare zu fönen.
„Es sind wirklich nette Kinder dabei. Viel Glück!“, wünscht mir Miss Miller, und insgeheim wünsche ich ihr Hals- und Beinbruch für ihren kommenden Ski-Urlaub, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes.
Meine erste Stunde mit ihnen fällt dann auch noch auf die letzte Schulstunde am Freitag. Während die ersten vier Schulstunden am Vormittag noch erträglich sind, sind so kurz vor dem Wochenende die meisten nur noch zum Ausmalen fähig.
Am Abend vorher stehe ich lange vor meinem Spiegel und übe meinen grimmigsten und gemeinsten Blick. „Setzt euch! Haltet die Klappe!“, schreie ich mein Spiegelbild an. „Keine Widerrede!“
Ich lächle ermutigt – das sah wirklich furchterregend aus.
Am nächsten Morgen warte ich dann in meinem Klassenzimmer auf das Schlimmste. Einer nach dem anderen tritt ein, begrüßt mich mit „Hello Miss Terminator“ , und ich starre mit meinem strengsten Gesichtsausdruck zurück. Nur keine Schwäche zeigen. In einer Stunde ist alles vorbei, ich habe alles im Griff, es wird alles gut.
„Wie viele Zöpfe kann man denn aus Ihren Achselhaaren
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