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Ein Jahr in London

Titel: Ein Jahr in London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Regeniter
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flechten?“, ist dann die erste Attacke eines Mädchens in der letzten Reihe, das sich lässig in seinem Stuhl zurücklehnt. InEngland geht das Gerücht um, deutsche Frauen würden sich nicht rasieren.
    Jetzt ist Miss Millers Ignorier-Taktik erforderlich. Ich tue so, als hätte ich nichts gehört, und stelle mich der Klasse stattdessen vor.
    „Sie kommen aus der Nähe von Dortmund? Borussia Dortmund?“, fragt mich der berühmt-berüchtigte Kyle, der mich mit seinen Segelohren und fransigen Haaren frech angrinst. „Cool!“
    „Wieso, warst du schon mal dort?“
    „Nein, aber ihr habt schon Mal gegen Manchester United gewonnen. Ich hasse Manchester United!“ Ein Pluspunkt für mich.
    „Miss, warum sind Sie eigentlich nicht nach Spanien gezogen?“, fragt ein anderes Mädchen.
    „Nach Spanien? Warum sollte ich denn nach Spanien ziehen?“
    „Alle Leute, die ich kenne, wollen gerne nach Spanien ziehen.“
    „Aber ich mag England eigentlich lieber.“
    „Hm.“ Sie schaut mich an, als sei ich nicht ganz richtig im Kopf, dreht sich um und streitet dann mit ihrer Freundin weiter darüber, ob roter oder rosaner Lippenstift ihr besser stehen würde.
    Doch dann öffnet die berühmte Natasha Leeming den Mund.
    „Mein Vater hat gesagt, die Deutschen hätten überhaupt keinen Humor.“
    „Also, so kann man das ja nun auch wieder nicht sagen –“ Ich suche angestrengt nach einer geistreichen Bemerkung, aber mir fällt beim besten Willen nichts ein. Jemandem Humorlosigkeit vorzuwerfen ist für Briten die schlimmste Beleidigung überhaupt.
    „Kennen Sie denn nicht wenigstens irgendeinen Witz, Miss?“
    Die Klasse schaut mich gespannt an, und ich fühle mich, als laste der Ruf ganz Deutschlands auf meinen Schultern.
    „Also –“. Zum allerersten Mal in dieser Stunde ist es mucksmäuschenstill im Klassenzimmer.
    Irgendein blöder Witz muss doch wohl selbst mir einfallen.
    Ich überlege hin und her, spüre, wie mir langsam der Schweiß ausbricht, und fühle mich, als hätte ich jegliche Erinnerung verloren.
    Dann, in einer genialen Eingabe, fallen mir das Weihnachtsessen und Grandpa Arthur ein.
    „Ja, also, was isst ein Schneemann zum Frühstück?“ Ich erinnere mich an das schallende Gelächter beim Weihnachtsessen und lege eine bedeutungsvolle Pause ein.
    Die Klasse sitzt weiterhin gespannt in völliger Stille. Ich fahre fort.
    „Schneeflocken.“
    Nicht mal ein einziges unterdrücktes Lachen ist zu hören. Gar nichts.
    „Er isst Schneeflocken!“, wiederhole ich, schaue auf und sehe, wie die Kinder sich stirnrunzelnd angucken. Schließlich meldet sich Natasha zu Wort.
    „Scheint, mein Vater hat wohl doch Recht gehabt!“
    Ich bemerke die ersten feindseligen Blicke. Die kurze Ruhepause, in der die Kinder überlegen, wie sie weiter vorgehen werden, nutzte ich, um endlich die Stunde zu beginnen.
    „Wir werden heute über das deutsche Schulsystem reden.“
    „Bor-ing! Bor-ing! “, ruft Kyle, aber ich rede unbeirrt weiter und erkläre ihnen den normalen deutschen Schultag.
    „Und um eins geht man nach Hause.“
    „Nach Hause? Und was dann?“
    „Nichts dann. Dann ist frei.“
    „Frei?“
    „Wie, um ein Uhr?“
    „Das ist nicht fair! Warum müssen wir bis halb vier in der blöden Schule hocken?“
    „Not fair, not fair, not fair!“ , schreit Kyle.
    Die gesamte Klasse entscheidet sich spontan, sofort nach Deutschland auszuwandern. Sie haben sich entschlossen: Deutschland hat auch seine guten Seiten. Und ich beschließe, auch die 10A ist gar nicht so schlimm und hat ihren ganz eigenen Charme. Nicht genügend jedoch um meinen Vorsatz zu ändern, so bald wie möglich zu kündigen.
    Die Kündigungsfrist ist jeweils das End of Term , das Frühlings-Trimester hat gerade erst angefangen, also werde ich bis zu den Osterferien auf jeden Fall bleiben müssen. Wenn ich mich nicht beeile, sogar bis zum Sommer. Am gleichen Nachmittag noch klopfe ich an Miss Millers Tür und teile ihr meinen Beschluss fest.
    „Ach, waren sie so schlimm?“
    „Wer, die 10A? Nein, sie waren nett.“
    „Wirklich? Und warum willst du dann plötzlich kündigen?“
    Ist sie wirklich überrascht? Ich würde ihr am liebsten die Wahrheit sagen, nur dieses eine Mal, beiße mir aber auf die Zunge und antworte: „Ich habe einfach die Nase voll.“
    „Ach, das ist schade, wir werden dich so vermissen!“ Sie verzieht das Gesicht, als wäre sie wirklich untröstlich. „Aber kein Wunder, bei den Klassen, die du hast! Da hätte ich auch

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