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Ein Jahr in London

Titel: Ein Jahr in London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Regeniter
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lehne mich weiter aus dem Fenster, schaue in alle Richtungen, doch nirgendwo sind die Totgeglaubten zu sehen.
    Jake stößt mich an: „Das gibt es doch nicht! Da sind sie.“ Er zeigt auf zwei sich in den Armen liegende Männer auf unserer Straßenseite, die die besten Freunde zu sein scheinen.
    „Komm, ich lade dich noch auf ein Guinness ein, Pat, und mache es wieder gut.“
    „Ich heiße nicht Pat, verdammt noch mal!“
    „Halt den Mund und trink noch einen mit mir! Komm schon.“
    Das Polizeiauto fährt langsam die Straße runter an ihnen vorbei. Einer der Polizisten schaut zu unserem Fenster herauf.
    Jake duckt schnell den Kopf.
    „Meinst du, wir bekommen jetzt Ärger, weil wir die Polizei umsonst gerufen haben?“
    „Wir konnten ja nicht wissen, dass die beiden sich so schnell wieder vertragen.“
    „Stimmt, es hätte ja auch ernst ausgehen können.“
    Ich werfe einen letzten Blick aus dem Fenster. Das Polizeiauto entfernt sich langsam, während die beiden Männer nebeneinander die Straße entlangtaumeln. Ein Mann mit buschigem Schnurrbart kommt ihnen entgegen und wirft ihnen einen wütenden Blick zu. Es ist Mr Iqbal vom Red Rose.
    „Good evening, Larry. Long not ordered!“ Er läuft kopfschüttelnd weiter.

Juni
    „W HAT ARE YOU HAVING FOR TEA ?“ , ruft Maddie aus der Küche. Ich frage sie verwundert, seit wann wir denn etwas zum Tee essen würden, und schließlich ist es schon spät und fast Zeit für das Dinner, also das Abendessen.
    „Das meine ich ja! Tea, dinner , supper, lunch, alles dasselbe!“ Maddie klärt mich auf, dass in ihrer Heimatstadt Newcastle, und überhaupt überall außer im versnobten London, tea die Bezeichnung für das Abendbrot sei, dinner hingegen mittags eingenommen wird.
    „Und was wird dann aus dem lunch und supper?“, frage ich verwirrt.
    „ Supper und lunch sagt man nur, wenn man so tun will, als sei man sehr vornehm. Oder natürlich, wenn man wirklich vornehm ist.“
    Ich gebe zu, dass ich in den letzten Tagen zum lunch jeweils eine kümmerliche Portion Baked Beans auf Toast hatte, oder auch einmal als besonderen Luxus eine Baked-Beans- Pizza, was wohl kaum vornehm genug ist, es noch als lunch zu bezeichnen. Ich brauche unbedingt einen neuen Job.
    Und Maddie hat mal wieder eine gute Idee: Ich soll Privatstunden geben. In allen Bibliotheken in meinem Umkreis, in Camden, Kentish Town und Swiss Cottage, hänge ich also Anzeigen auf. „Erfahrene Deutschlehrerin, Muttersprachlerin, gibt Unterricht. Alle Fähigkeitsgrade und Altersstufen, 15 Pfund pro Stunde.“ Ich warte gespannt auf einen Anruf, aber tagelang meldet sich niemand. Dann ein Anruf einer Polin namens Eva, die mir einen Austausch anbietet: Für jede Stunde Deutschunterricht meinerseits wird sie mir eine Stunde lang Polnisch beibringen. Ich würde sehr gerne Polnisch lernen, doch wegenmeiner nicht vorhandenen Sprachlernfähigkeiten wäre das ein nutzloses Unterfangen. Der einzige andere Anruf kommt von einem Engländer namens Mr Walters, der schon ziemlich perfekt Deutsch zu sprechen scheint.
    „Ich möchte Konversation machen mit Ihnen, wenn ich darf“, erzählt er mir am Telefon. Ich gebe ihm meine Adresse und wir vereinbaren einen Termin.
    Zu seiner ersten Stunde klopft Mr Walters um Punkt sieben Uhr mit deutscher Pünktlichkeit an die Tür, nimmt seinen Schlapphut ab und setzt sich, ohne auf eine Aufforderung zu warten, in meinen Ohrensessel.
    „Möchten Sie bestimmte Themen besprechen oder sollen wir einen Text durchlesen?“, frage ich ihn.
    „Ich möchte Konversation machen.“
    Und dann redet er in einem solchen Wortschwall los, dass ich in der ganzen Stunde kaum ein Wort einfügen kann. Um genau acht Uhr steht er dann plötzlich mitten im Satz auf, drückt mir das Geld in die Hand und verabschiedet sich. Jeden Dienstagabend höre ich von nun an Mr Walters haargenau eine Stunde lang für 15 Pfund zu, wie er mir in perfektem Deutsch aus seinem Leben erzählt. Und mich über deutsche Politik, deutsche Literatur und deutsche Angewohnheiten aufklärt, von denen ich noch nie in meinem Leben vorher gehört habe.
    „Stellen Sie zu Hause am 4. Dezember einen Barbarazweig auf?“, fragt er mich zum Beispiel. Ich verneine, worauf er mich überrascht anschaut und mir dann im kleinsten Detail über diesen Brauch erzählt.
    „Dass Sie davon aber auch selber noch nichts gehört haben, strange, very strange !“
    Mr Walters weiß bedeutend mehr über mein Vaterland als ich.
    „Was halten Sie denn von dem

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