Ein Jahr in New York
„Als Frau über dreißigSingle zu sein ist ein Stigma. Selbst in New York. Bei Männern spielt das hingegen überhaupt keine Rolle. Die Ungebundenheit macht sie höchstens noch attraktiver, und sie bekommen erst recht die jungen Dinger ab. Allein deshalb müssen wir Frauen zusehen, dass wir rechtzeitig unter die Haube kommen.“
„In der New York Times habe ich kürzlich von einer Studie gelesen, die ergab, dass ledige Frauen über vierzig mit größerer Wahrscheinlichkeit Opfer eines Terroranschlages werden, als einen Ehemann zu finden“, fügte Marc trocken hinzu. Wir mussten alle lachen. „Also, bevor wir Singles uns hier weiter in Beziehungstheorien verheddern, sollten wir den restlichen Glühwein einpacken und uns an den East River setzen“, schlug Valerie vor.
Da lag sie vor uns und flimmerte. Die Skyline. Aus dieser Distanz konnte man die Insel in ihrer vollen Schönheit begreifen. Keine andere Metropole, weder London, Paris noch Rom, hatte diesen poetischen Anblick aus der Ferne zu bieten, der einen mit voller Wucht traf, wenn man an den Ufern Brooklyns oder New Jerseys stand und Manhattan erblickte. Wir waren in dicken Mänteln durch die dunkle Nacht die Kenmare Street Richtung Norden gelaufen und dann in die North Seventh eingebogen, die direkt zum East River führte und von Brachland umgeben war. Nicht mal Straßenbeleuchtung gab es hier. Es war stockfinster. Deshalb waren die Skyline und der Strahlenkranz, den die Stadt an den Horizont warf, noch beeindruckender als ohnehin schon. „Ich hatte keine Ahnung, dass man hier einfach bis ans Wasser laufen kann“, sagte ich. „Ist auch nur so halb legal. Dauert sicher nicht mehr lange, bis jemand auf die Idee kommt, hier ein Hochhaus mit Luxusapartments hinzuknallen. Bei der 1-A-Lage“, flüsterte Marc.
Wir krochen durch ein großes Loch in einem sehr sporadischen Zaun und setzten uns auf ein paar Blöcke Treibholz direkt ans Ufer. Das erste Mal an diesem Abend waren alle still und hörten der Stadt zu, die auf der gegenüberliegenden Seite beschäftigt vor sich hin summte. Ein verheißungsvolles Rauschen, das vom gelegentlichen Ans-Ufer-Schwappen des East River begleitete wurde. Valerie seufzte tief und drückte wortlos aus, was wir alle empfanden. Wir blickten alle auf die gleiche Stadt, und jeder sah sein ganz eigenes New York. Fabriziert aus Begegnungen, Erlebnissen und Gefühlen, die sich bei jedem anders abgespielt hatten.
Links neben uns wurde der Fluss von drei majestätischen Brücken überspannt, die die Stadt wie pulsierende Venen mit Brooklyn verbanden. Es war schon weit nach Mitternacht, aber der leuchtende Verkehr strömte noch in beide Richtungen. Rauf auf die Insel und runter. „Wie viele Leichen hier wohl vor uns im East River liegen?“, unterbrach Jonathan das Schweigen. „Woran du wieder denkst, Jonathan“, sagte Val. „Ich war schon so oft hier und bin jedes Mal wieder von diesem gigantischen Panorama überwältigt. Könnt ihr euch vorstellen, wie sich ein Immigrant aus Europa vor hundert Jahren bei diesem Anblick gefühlt haben muss?“
„Wisst ihr, dass man über 13 Jahre gebraucht hat, um die Brooklyn Bridge fertigzustellen?“, informierte uns Marc. „Ich kann mir nie merken, in welcher Reihenfolge die Brücken stehen“, sagte ich fragend. „Ganz einfach. Besonders für euch Deutsche: BMW – Brooklyn, Manhattan, Williamsburg“, antwortete Vanessa. „Wusstet ihr außerdem, dass man Zirkuselefanten als Versuchskaninchen über die Brücke hat laufen lassen, um die Stabilität der Konstruktion zu testen?“, fuhr Marc wie ein Lehrer beim Schulausflug fort.
Die Eröffnung der Brooklyn Bridge im Mai 1883 war der Beginn der vertikalen Revolution. Stahl machte es möglich und ließ Manhattan in die Höhe schießen. Als die New Yorker, etwa 150 000 Fußgänger plus 1800 Fahrzeuge, am ersten Tag die ungefähr 1800 Meter lange und damals größte Brücke der Welt überquerten, waren sie höher als in ihrem Leben jemals zuvor, etwa 41 Meter über dem Meeresspiegel. Gebaut wurde sie von dem in Deutschland geborenen John A. Roebling. Auf die Idee, eines der ehrgeizigsten Ingenieursprojekte der damaligen Welt zu bauen, kam er nur, weil eines besonders kalten Wintertages im Jahre 1867 der East River zufror und er nicht wie üblich mit der Fähre über den Fluss setzen konnte. Der komplette Berufsverkehr zwischen Brooklyn und Manhattan kam zum Stillstand. Marc erzählte uns weiter, dass die Bauleitung letzten Endes von einer
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