Ein Jahr in San Francisco
los, dass San Francisco und seine Einwohner etwas Gegensätzliches in sich tragen: Die Stadt erscheint mir wie ein zärtlich renovierter Oldtimer, dessen Lackmantel und Karosserie liebevoll gepflegt und poliert und dessen Felgen mit Blumenschmuck aufwendig dekoriert wurden. Vollbesetzt mit Passagieren aus aller Herren Länder. Der Oldtimer ist schrullig, verschroben und wahnsinnig liebenswert. Doch die Insassen sind frei und rebellisch, zusammengesetzt aus den verschiedensten Nationen der Welt und erfüllt von großen Plänen. Sie liefern dem Oldtimer einen starken Antrieb; den Porsche-Motor sozusagen. Diese Kultur und Atmosphäre des You-can-do-it-Glaubens habe ich so bisher noch nicht erlebt, und ich muss zugeben, dass diese Mentalität eine große Anziehungskraft auf mich ausübt. Irgendwann möchte ich auch Teil eines Gründungsunternehmens sein. Wer weiß, vielleicht ja sogar gemeinsam mit Vijay. Schließlich hatte er schon einmal angedeutet, dass er große Pläne mit der Healthcare-Plattform hat. Und ich glaube an seine Idee, weil ich täglich mit Patientengruppen und Ärzten in Kontakt bin und sehe, wieveraltet viele Prozesse im Gesundheitswesen sind. Es gibt also viel zu tun! Doch im Moment ist mein Entdeckergeist für die neue Heimat noch größer: die Freundschaften mit Rose und Mari Carmen und natürlich Nick, der mir nicht mehr so richtig aus dem Kopf gehen will.
Streifzug:
Atmen Sie den Geist der Einwanderer!
Falls Sie sich über den starken Geist und die Vielfalt an Kulturen in San Francisco wundern, sollten Sie einen Blick in die Geschichte der Stadt werfen: Als das Gold gefunden wurde, startete eine der größten Völkerwanderungen der Menschheitsgeschichte. Innerhalb eines Jahrzehnts wuchs die Stadt von einem 500-Seelen-Dorf zu einer Metropole mit über 50 000 Einwohnern heran. Doch nicht nur das Gold lockte die Menschen nach Kalifornien: Die spanischen Missionare, die chinesischen Arbeiter und die Immigranten aus Russland, Italien und Japan legten monatelange Reisen zurück, um ihr Glück im verheißungsvollen Land der unbegrenzten Möglichkeiten zu versuchen. Bis heute reißt der Zulauf am Zufluchtsort der Coast of Dreams nicht ab: Internet- und Computerhelden, Kreative und Spirituelle, Lesben, Schwule, Bi- und Transsexuelle kommen nach San Francisco, um hier das vom amerikanischen Autor Frank Norris hochgelobte „Märchenleben“ in der „Bilderbuchstadt“ zu finden. In San Francisco steckt die Kraft und Zuversicht der Träumer und Kämpfer, die der Stadt diesen besonderen Geist verleihen. Die Bay Area hat sieben Brände überdauert, die großen Erdbeben von 1906 und 1989 überstanden. Sie war Abschiedshafen der Liberty-Frachter während des Zweiten Weltkriegs, sie war Gründungsort der United Nations in 1945, Geburtsort der Hippies und jeder Menge Innovationen wie der Computermaus oder des Mikrochips. Frischen Geist finden Sie hier allemal!
„San Francisco is 49 square miles surrounded by reality.“
P AUL K ANTNER , R OCKMUSIKER
März
Pazifisches Walgeflüster
„One day if I do go to heaven, I look around and would say it’s nice, but it ain’t San Francisco“, singt Mari Carmen, was übersetzt so viel heißt wie „Wenn ich eines Tages in den Himmel komme und mich umschaue, würde ich sagen: Ist ja ganz nett, aber es ist eben nicht San Francisco.“ Die Herb-Caen-Texte haben es ihr angetan. Sie hat in den letzten Tagen einen Artikel über den Kolumnisten verfasst, der mehr als sechzig Jahre lang „seinem“ San Francisco in Büchern und Artikeln wunderbare Liebeserklärungen machte.
Mari Carmen und ich sind gerade auf dem Weg von der BART-Station zum Mission Dolores Park im spanischen Teil der Stadt. Die BART (Abkürzung für „Bay Area Rapid Transit“) ist das Nahverkehrssystem, teilweise U-, teilweise S-Bahn, das die wichtigsten Orte der Bucht San Franciscos miteinander verbindet. „Endlich haben wir mal T-Shirt-Wetter, nicht wahr, Chorizo?“, necke ich sie. Sie rückt nur ihre Sonnenbrille zurecht. Obgleich sie die Figur und Größe eines spanischen Magermodels hat, ärgert sie sich jedes Mal darüber, wenn ich sie aus Spaß als spanische Paprikawurst bezeichne. Unsere Freundschaft hat eine schier mysteriöse Intensität angenommen. Obwohl wir uns erst vor zwei Monaten trafen, fühlt es sich an, als würden wir uns bereits seit Jahren kennen. Wir können über alles reden, und ich habe mit ihr innerhalb weniger Wochen eine genauso intensive Freundschaft aufgebaut wie mit
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