Ein Jahr in San Francisco
gibt. Angeblich soll es sogar eine Gruppe von Nacktläufern geben, die Bare to Breakers . Ein kleiner Junge neben uns hält in seinem Kinderwagen einen ganzen Vorratspack von Tortillas mit beiden Händchenfest umklammert. Da seine Wurffähigkeiten noch ausbaufähig sind, klatscht er seinen Mitmenschen die Tortillas an den Körper. Die Eltern, beide als Bratwürstchen verkleidet, lachen und jubeln ihrem Sohnemann zu. Toll! Vijay verzieht das Gesicht, als die Tortillas auf seinem zarten Moglirücken aufprallen. „Die Wursteltern sollen mal auf Mr. Sohn aufpassen! Unbelievable.“
Doch schnell bietet sich Trost. Eine Horde junger Mädchen, verkleidet als Kartenspiel, sucht sich kreischend den Weg durch die Menge. Außer Pappkarten, die auf Brust und Rücken geklebt sind, haben sie Mädels nicht viel an. Der Tortilla-Schmerz ist fürs Erste vergessen, Vijay bestaunt andächtig die langen Beine, die aus den Pappkarten herausragen. „Nice chicks.“ Währenddessen steigt uns immer wieder ein leichter Marihuanageruch in die Nase, der ganz aus der Nähe zu kommen scheint. Kein Wunder, denn direkt neben uns steht eine Gruppe von verkleideten Bräuten und Bräutigamen, die gerade damit beschäftigt sind, einen weißen Glimmstängel durch ihre Hochzeitsgesellschaft zu reichen. Auch haben sie für den großen Tag nicht auf die Anwesenheit ihrer geliebten Bernhardiner und Cocker Spaniel verzichten können und ihre Vierbeiner im gleichen Outfit eingekleidet. Die Hunde tragen über dem dichten Fell weiße Kleidchen und rosafarbene Schleifchen. Das Kostüm eines kleinen Cocker Spaniels ist viel zu lang und behindert ihn beim Laufen. Immer wieder tritt er auf den weißen Stoff und stolpert dann über seine eigenen Vorderbeine. Mit der Schnauze versucht er, das Kleid von seinem Rücken zu ziehen – ohne Erfolg.
Punkt acht Uhr fällt der Startschuss. Wie eine große Lawine schieben sich Tausende von gut gelaunten, bunt verkleideten Läufern durch die Straßen San Franciscos. Ein Wahnsinnsgefühl, hier mittendrin zu sein. Anfangs können wir nicht wirklich Geschwindigkeit aufnehmen, die kostümiertenMenschenmassen verstopfen die Straßen. Und mein Baumkostüm piekt und sticht, das Laufen fällt mir schwer. Immer weiter bohren sich die Äste ihren Weg unter meine Strumpfhose, und ich spüre das Gestrüpp bei jedem Schritt. Damit nicht genug. Denn zudem breitet sich mein Geäst nach vorne und nach hinten aus. Gefühlte zehn Mitläufer pro Quadratmeter spüren mein Baumkostüm genauso sehr wie ich selbst, etwa ein männlicher Mitstreiter dicht neben mir. Er trägt ein Plastikmesser quer durch den Bauch und das Kunstblut läuft rechts und links an seinem weißen Hemd herunter. „Kannst du den Baum aus meinem Körper nehmen. Ich bin schon verwundet“, beschwert sich Bloody Mary, als er plötzlich unterbrochen wird. Eine Horde von wild gestikulierenden rot-orangefarbenen Lachsen kommt auf uns zu und bahnt sich eilig entgegen der Laufrichtung ihren Weg durch die Menge. „What the ...?“, entweicht es mir. Durch den plötzlichen Ansturm des Fischschwarms mit seinen wedelnden Flossen sehe ich den Großteil meiner Äste auf den Boden segeln. Da fängt der Messerbursche an zu grinsen und scheint die pieksenden Tannenzweige vergessen zu haben. „Süße, kein Stress. Das sind die Lachse auf der Flucht vor den Bären. Die rennen jedes Jahr gegen den Strom.“
Als die nach Luft schnappenden Tiere zwischen uns hindurchgeschwommen sind, können wir unser Lauftempo wieder erhöhen. Zumindest für drei Sekunden. Denn als wir gerade wieder aufs Gas drücken und Mogli sein rotes Höschen mit einem geübten Griff für die zunehmende Geschwindigkeit in Form rückt, werden wir erneut von einer Truppe entgegenkommender Läufer aufgehalten. Diesmal eine Horde grölender Bären auf der Jagd nach ihrem Frühstück. Der Bär an der Front ruft: „Wuah, uah – catch the salmons!! Hungry, hungry“, und sie kämpfen sich ihren Weg zwischen den halb nackten, bunt verkleideten Kostümkünstlernhindurch. Mari Carmen kann sich vor Lachen kaum halten. Sie blickt den Bären nach, die dem Lachsschwarm hinterherjagen. „Die Leute hier sind verrückt – so etwas gäbe es nie in Barcelona!“ Und selbst der rheinische Karneval dürfte mit dem Bay to Breakers nicht ansatzweise zu vergleichen sein.
Unsere Route verläuft entlang der Howard Street durch das Stadtviertel SoMa bis zur neunten Straße. Ab der Ecke Hayes Street quälen wir uns durch den anstrengendsten
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