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Ein Jahr in San Francisco

Ein Jahr in San Francisco

Titel: Ein Jahr in San Francisco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanni Bayers
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Verkleidungen haben sich dabei teilweise aufgelöst. Freudestrahlend und schweißnass fallen wir uns in die Arme, und Vijay rennt jauchzend Richtung Pazifik. „I am melting away – water, water.“ Nick kommt zu mir und klopft mir anerkennend auf die Schulter, und ich zwinkere ihm zu. In diesem Moment fühlt sich alles so leicht an, so perfekt. Ich wusste doch, dass San Francisco die richtige Entscheidung ist. In diesem Augenblick könnte ich mir nichts Besseres vorstellen, als hier mit so vielen Tausenden von erschöpften, glücklichen Menschen am Meer in der wärmenden Morgensonne zu stehen. Die Pazifikküste erwacht gerade erst aus ihrem tiefen Traum und räkelt sich müde in den ersten Sonnenstrahlen, aber wir haben bereits den ausgeflipptesten Lauf unseres Lebens hinter uns.
Streifzug:
Feiern Sie ausgelassen!
    Es gibt wenige Städte, in denen die Menschen so häufig und gerne in Kostüme schlüpfen und verkleidet durch die Straßen ziehen wie in San Francisco. Im Mai warten neben dem Bay to Breakers ebenso der Cinco de Mayo (5. Mai) und der brasilianische Karneval auf Sie. Der fünfte Mai gedenkt des Sieges, den die mexikanische Armee über die französische Expeditionsarmee in der Schlacht bei Puebla 1862 errang. Beim brasilianischen Karneval können Sie (fast) alle Hüllen fallen lassen und mit bunten Federn geschmückt durch die Mission tanzen. Ein Erlebnis für die ganz Hartgesottenen mit einem Faible für Leder ist die Folsom Street Fair im September – bitte nicht erschrecken, denn man sieht viel nackte Haut und bizarre Szenen! Etwas softer ist die Pride Parade im Juni, ein Aufmarsch, der von der LGBT-Bewegung veranstaltet wird. Ende November findet die furchteinflößend festliche Parade zum Gedenken der Toten statt: der Dia de los Muertos. Bei diesem mexikanischen Totenfest treffen Sie beim nächtlichen Marsch in der Mission auf gruselige Skelette, singende Zombies und ekstatische Aztekentänzer. Festlich beendet wird der November mit Thanksgiving. Zum einen mit dem spaßigen Truthahn-Rennen im Golden Gate Park und zum anderen mit einer Sonnenaufgangszeremonie auf Alcatraz, bei der die Native Americans an ihre neunzehnmonatige Besetzung von Alcatraz erinnern, sich für ihre Recht einsetzen und propagieren, dass die Insel Landbesitz der indianischen Ureinwohner ist.

„Your city is remarkable not only for its beauty. It is also, of all the cities in the United States, the one whose name, the world over, conjures up the most visions and more than any other city incites one to dream.“
    G EORGES P OMPIDOU , FRANZÖSISCHER P OLITIKER
    Juni
Work hard, play hard
    Ein paar Tage nach dem Bay to Breakers stehe ich zwischen den Einkaufsregalen bei Trader Joe’s , der amerikanischen Bio-Version des deutschen Supermarkts ALDI. Heute Abend wollen Mari Carmen, Sophia und Rose in meiner neuen WG zum Housewarming , also zum Anstoßen aufs neue Heim, vorbeikommen. Zwar liegt mein Einzug schon ein paar Wochen zurück, aber in Amerika ist das kein größeres Problem, Einweihungspartys sind auch zwei Jahre später noch vollkommen legitim, genauso wie Geburtstagsfeste um Wochen vorgefeiert werden können. Trader Joe’s führt nur eine limitierte Auswahl an Produkten, dafür stammen die meisten Angebote aus ökologischem Anbau. Zudem ist der Einkauf beim Edel-ALDI auch noch ein echtes Erlebnis und, wie ich finde, so much fun . Schon beim Eintreten durch die gläserne Schiebetür würde ich mir am liebsten eine Blumenkette um den Hals werfen, denn die amerikanische Variante der Albrecht-Brüder-Dynastie steht unter dem Hawaii-Motto. Alle Mitarbeiter tragen bunt geblümte Hawaiihemden, die Filialleiter nennen sich selbst captain , den Stellvertreter second mate , also zweiten Steuermann. Der Rest der Belegschaft gehört zur crew .
    Ich wähle ein paar Flaschen Sekt und Softdrinks aus und gehe weiter zum Käseregal. Als ich gerade prüfend an der Theke stehe, raunt plötzlich eine rauchig-sanfte Stimme mit französischem Akzent über den Käsehügel: „Excusezmoi – ich will dich nicht stören. Kannst du mir einen Käse empfehlen?“ Langsam drehe ich meinen Kopf herum und blicke in ein ebenmäßiges, von dunkelblonden, kurzen Locken eingerahmtes Gesicht, die Haut sonnengebräunt, gepflegt und perfekt glattrasiert. Ein Mann, fast wie aus einem Prospekt für ein teures Rasierwasser oder Männerparfüm. Wow, denke ich, und ein freundliches, fast jungenhaftes Lächeln lässt mich mein für heute Abend geplantes

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