Ein Jahr in San Francisco
Teil der Strecke. Hier erhebt sich die Straße hinauf zum Alamo Square. Der kleine Park hoch über der Stadt bietet einen Panorama-Blick über ganz San Francisco und auf die bekannteste Häuserreihe der Stadt. Die als Painted Ladies bezeichneten bunten Gebäude sind eines der meist fotografierten Objekte der Vereinigten Staaten. Von den im viktorianischen oder gingerbread style , also Zuckerbäckerstil, erbauten Häusern gibt es in San Francisco um die 16 000, weit mehr als in jeder anderen US-amerikanischen Stadt. Der Hauptgrund für deren schnelle Verbreitung war ökonomischer Natur: Die Häuser konnte man sich in Musterbüchern zu günstigen Preisen aussuchen, weil die „Haushüllen“ in Schnellbauweise angefertigt wurden; Individualität drückten die Hausbesitzer durch Dekors und Farbwahl aus. Jetzt im Laufschritt daran vorbeisprintend, kann ich den Ausblick auf die farbenfrohe Häuserreihe allerdings nicht wirklich genießen.
Vom historischen Alamo Square geht es weiter über die Fell Street Richtung Golden Gate Park. Entlang der Strecke sitzen die Hausbewohner an den Fenstern und winken den vorbeilaufenden Massen zu. Einige von ihnen schwenken bunt bemalte Plakate aus dem Fenster. Die Ziellinie liegt am Ende des Golden Gate Parks in der Nähe des Tulpengartens am Pazifischen Ozean. Durchhalten!
Vollkommen außer Puste laufen wir die zwei letztenKilometer durch den Park, als uns auf einmal frech von rechts ein Mann überholt. Er hat lange braune Haare, einen nackten Oberkörper und einen Lorbeerkranz auf dem Kopf. Der gut gebaute Jüngling mit weißem Lendentuch trägt zusätzlich noch ein massives Holzkreuz auf den Schultern. Es ist Jesus, und er rennt. Im Laufschritt sprintet er mit seinem Kreuz auf dem Rücken die Straße hinauf. Schweißperlen stehen ihm auf Gesicht und Körper und glänzen in der Sonne. Die Zuschauer am Straßenrand jubeln ihm „Go, Jesus, go!“ zu. Ihm folgt im gleichen Laufschritt eine Zwölfergruppe, nicht minder angestrengt aussehend. „Das sind seine Apostel!“, ruft Vijay, denn auf ihre Rücken sind in dicker, schwarzer Farbe Namen wie Judas, Johannes, Simon und Petrus geschrieben. Ich frage mich, woher Vijay als Hindu überhaupt die Apostel kennt. Abwechselnd lassen sie Jesus in einen nassen Schwamm beißen, um ihm Flüssigkeit anzubieten. Seltsam, ich bin doch bibelfest. „Waren es die Apostel, die Jesus am Kreuz zu trinken gaben?“, rufe ich Nick zu, der unmittelbar neben mir läuft. Durch die silberne Rüstung kann ich nur seine Augen sehen. Der Arme muss in dem schweren Ding sicherlich schwitzen, aber er macht einen recht glücklichen, wenn auch erschöpften Eindruck. „Nein, aber heute ist eben alles erlaubt.“ Durch die Rüstung höre ich sein schallendes Lachen. Und auch ich bin erschöpft, aber glücklich, weil Nick neben mir läuft und ich noch nicht dehydriert am Wegesrand liege.
Jetzt brennt der Ehrgeiz in mir auf. Das schaffen wir! So kurz vor dem Ziel muss ich Nick noch mal zeigen, was in mir steckt. Solch ein Jesus mit so viel Brennholz auf dem Rücken sollte doch locker zu überholen sein. Ich lege einen Zahn zu, werfe die letzten Zweige ab und schalte den Turbogang ein. Jesus ist nur wenige Meter vor mir. Er ist wirklich flott. Plötzlich kommt von links ein Mädchen in einem weißen Kleid auf die Straße gerannt und wirft sich dem laufendenJesus vor die Füße. Bei dem Überfallmanöver stürzt Jesus samt seinem massiven Holzkreuz beinahe auf das Mädchen, kommt jedoch in letzter Sekunde vor ihr zum Stehen und kann das Kreuz gerade noch festhalten. Entgeistert schaut er auf sie herab. „Jesus, please! Make me your wife!“, ruft sie laut flehend, während sie seine Füße mit beiden Händen umklammert. Jesus ist von dem unerwarteten Heiratsantrag weniger angetan, er will weiterlaufen. Seine Jünger helfen ihm dabei, sich von dem Mädchen im Feenkostüm zu befreien. „Ausgeflippt“ ist für diesen Volkslauf gar kein Ausdruck. In einer Stadt, in der die Ausnahmen der Regelfall sind. Alles ist möglich – you can do it!
Die letzten hundert Meter konzentriere ich mich nur noch aufs Laufen, Atmen, Durchhalten. Und dann endlich kommen wir an: am Strand vom Golden Gate Park. Von weitem sehe ich bereits den Zielbogen. Wir sind die zwölf Kilometer von der Innenstadt bis an den Pazifik gerannt – egal, ob als Baum, Marienkäfer oder Ritter. Und mit letzter Kraft laufen wir gemeinsam in den Zielbogen ein. Unsere Zeit: eine Stunde und zwanzig Minuten. Unsere
Weitere Kostenlose Bücher