Ein Jahr in San Francisco
CHRIFTSTELLER
Mai
Dress to impress
„Hast du schon einmal 75 000 Menschen gesehen, die zusammen rennen, feiern und tanzen? Hier flippt echt die komplette Stadt aus.“ Nick schwärmt mir vor vom Bay to Breakers . Ich hingegen schwärme innerlich von Nick. „Da müssen wir mitlaufen. Stell dir mal vor: ein Tag voller bunter Kostüme. Manche tragen nur einen Hauch von nichts, völlig crazy. Es ist jeden dritten Sonntag im Mai das Beste, was du machen kannst. Das wird der Lauf deines Lebens.“ Er hält kurz inne und wartet auf mein Go. Und ich überlege krampfhaft, wie ich aus dieser Nummer wieder herauskommen kann. „Für diesen Lauf kommen die schrillsten Typen aus ganz San Francisco zusammen. Alles ist erlaubt. Und alle, die normal sind, sind für diesen einen Tag verrückt.“
Wir verbringen unsere Mittagspause gemeinsam an der Bay, essen ein Avocado-Sandwich vom Mexikaner und schauen aufs Wasser. Ein frischer Wind weht, auf eine ordentliche Brise ist hier am Pazifik immer Verlass. Das intensive, alles durchflutende Licht Kaliforniens kitzelt das Wasser der Bucht, und der Wind zerstäubt die kleinen Wellen, die in der Sonne glitzern und funkeln. Hier Mittag zu essen ist wie ein entspannender Kurzurlaub. Und dabei neben Nick zu sitzen macht alles noch viel besser. „Komm, sag schon, zwölf Kilometer rennst du doch sicherlich locker.“ Nick grinst mich an und knufft mir mit dem Ellenbogen leicht in die Seite. „Das hört sich auf jeden Fall nach SanFrancisco pur und jeder Menge verrückter Gestalten an. Das Ding laufen wir.“ Ich habe zugesagt – um Himmels willen.
Ich hatte schon von dem seit über hundert Jahren stattfindenden Volkslauf gehört, bevor ich nach San Francisco gekommen war. Bereits die Vorstellung, den Lauf gemeinsam mit Nick zu machen, treibt mir den Angstschweiß in den Nacken. Immerhin, ich muss nicht alleine mit ihm antreten, ein paar meiner Kollegen und Freunde wollen sich auch anschließen. Beim Bay to Breakers gibt es zwei Gruppen von Läufern: sportliches Laufen oder taumelnder Spaziergang. Wählt man die zweite Option, schafft man möglicherweise nur die Vier-Kilometer-Grenze und wird schließlich total kaputt und angetrunken in die offene Tür einer Hausparty auf der Hayes Street fallen, die sich an diesem Tag in eine einzige Partymeile verwandelt. Hausbewohner öffnen völlig fremden Menschen ihre Türen, und manchmal strömen Hunderte von Läufern in ein einziges Gebäude, weil das Gerücht herumgeht, dass genau dort eine gute Party steigt. „Es ist ganz egal, ob du unter den ersten zehn bist oder als Nummer 18 544 ins Ziel kommst. It’s just for fun. In der Jogging-Kategorie laufen jedes Jahr so um die 30 000 Menschen – da wird bestimmt einer langsamer sein als du“, versuchte Nick, mich aufzumuntern. Möglicherweise trägt der Gedanke an den Ursprung des Volkslaufs zur Teilnahmemotivation bei. Der Bay to Breakers wurde nach dem großen Erdbeben von 1906 von der Stadtverwaltung ins Leben gerufen. Viele Bewohner haben nach dem Beben und den dadurch ausgelösten Bränden fast alles verloren und der Lauf sollte sie wieder auf andere Gedanken bringen. Das Konzept schien aufzugehen.
In Vorbereitung auf den großen Tag planen wir für die folgenden Wochen Lauftreffs. Eine Blamage vor Nick würde mich im Boden versinken lassen. Irgendwann hatte ich ihm wohl in einem Zustand geistiger Umnachtung erzählt, dassich schon einige Marathons gelaufen bin, ein läppischer, klitzekleiner Viertelmarathon sei ein Klacks für mich. Nun, als so einfach erweisen sich unsere Laufvorbereitungen allerdings nicht. Einer nach dem anderen wird von der Sprinterrealität San Franciscos eingeholt. Einigen von uns wird beim Joggen im hügeligen San Francisco zum ersten Mal klar, wie verdammt vertikal die Stadt angelegt ist. Da hilft auch nicht der Gedanke daran, dass San Francisco bereits als eine der besten Jogging- und Laufstädte der USA ausgezeichnet wurde. Als Vorbereitungsstrecken bieten sich die folgenden an: Am Embarcadero kann man vom Ferrybuilding bis zur Fisherman’s Wharf circa drei Kilometer ohne Anstieg joggen. Die mit Palmen bepflanzte Promenade bietet einen schönen Ausblick auf die Bucht und liegt selbst in den Abendstunden zumeist in der Sonne. Auch die Golden Gate Promenade ist eine gute Vorbereitung: Der circa fünfeinhalb Kilometer lange Pfad bei Crissy Field ist bei Joggern und Radlern gleichermaßen beliebt. Wer niemanden zum Laufen hat, kann sich sogenannten Lauftreffs oder
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